Im Eklat um die Documenta will die Politik nun wortreich Tatenfolgen lassen. Das ist fatal.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Eines kann man bei diesem Skandal sicher nicht monieren: Tatenlosigkeit. Vor gerade mal einer Woche wurden bei der Documenta fifteen antisemitische Motive auf dem Kasseler Friedrichsplatz entdeckt. Ein Skandal, bei dem erstaunlich schnell Einigkeit darin bestand, dass das Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi umgehend entfernt werden muss. Ob links, ob rechts, offenbar ist sich die Politik aber auch einig, dass jetzt weitere Konsequenzen zu ziehen sind – und zwar auf der Stelle und möglichst radikal.

 

Der Kanzler will nicht nach Kassel fahren

So wurden diverse Vorschläge laut, welche Köpfe nun zu rollen haben. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat kurzfristig einen Fünf-Punkte-Plan verfasst, in dem sie „strukturelle Reformen“ verordnet. Die hessische Kunstministerin hat verkündet, dass die Documenta nie wieder von einem Kollektiv geleitet werden darf. Sogar der Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits deutlich gesagt, dass er nicht zur Documenta fifteen fahren wird.

So markig die Sprüche und beherzt die Taten – am eigentlichen Konflikt ändert das herzlich wenig. Nämlich, dass man ein ausländisches Kuratorenteam eingeladen hat, bei der Documenta seine Perspektive auf die Welt zu zeigen. Das entspricht der deutschen Kulturpolitik, die seit Jahren dezidiert den internationalen Dialog auf Augenhöhe fördert. Deshalb hat der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Reden auch oft wiederholt, dass man auf Austausch, Auseinandersetzung und Zusammenarbeit setze, damit „aus Verschiedenheit Gemeinsames entstehen kann“.

Niemand erwähnt kulturelle Erfahrungen

Der aktuelle Fall zeigt, dass diese Vision von Gemeinsamkeit offenbar nicht zwangsläufig meint, Verschiedenheit tatsächlich auszuhalten. Dabei wäre es durchaus denkbar gewesen, sich klar gegen das antisemitische Werk zu positionieren, dabei aber doch anzuerkennen und zum Ausdruck zu bringen, dass dieser dramatische Konflikt womöglich durch die jeweiligen historischen Hintergründe entstanden ist.

Obwohl vonseiten der Documenta in den vergangenen Tagen immer wieder auf diese „unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume“ hingewiesen wurde, tauchen sie in den politischen Debatten nicht auf. Im Gegenteil hat man den Eindruck, dass man das allzu schmerzliche Thema möglichst durch schnelles Handeln vom Tisch haben will, um sich nicht mit der eigentlichen Frage auseinandersetzen zu müssen: Ist Gemeinsames möglich, selbst wenn es unüberbrückbare Differenzen gibt?

Claudia Roth versucht ihren Kopf zu retten

Dass Steinmeier diese kulturellen Erfahrungsräume nun nicht einmal benennt, mag seinem Amt geschuldet sein. Als Bundespräsident steht er in einer anderen Verantwortung als Claudia Roth. Sie gibt in diesem Debakel eine denkbar schlechte Figur ab. Immerhin war sie es, die sich im Vorfeld als Moderatorin ins Spiel brachte, als die Antisemitismus-Vorwürfe einfach nicht abrissen.

Bloß, was hat sie dabei eigentlich getan? Sie ist so wenig wie Sabine Schormann, die Geschäftsführerin der Documenta, in einen ernsthaften Dialog getreten. Beide hätten bei ihren Gesprächen darauf dringen müssen, dass endlich Fakten auf den Tisch kommen, was an den Anschuldigungen gegen Taring Padi dran ist. Spätestens da hätten sie erkennen können und müssen, wie explosiv die Lage ist und dass es hier mit ein paar mahnenden Worten nicht getan sein wird.

Jetzt plötzlich, da diese Säumigkeit zu einem Debakel wurde, gibt sich Roth empört und fordert mehr Mitspracherecht der Politik. Das ist doppelt scheinheilig, denn erst vor wenigen Monaten hat sie bei ihrem Amtsantritt verkündet, grundsätzlich auf Zusammenarbeit zu setzen und keinesfalls „von oben ins vermeintliche Unten“ zu delegieren – wie sie es jetzt plötzlich tut.

Ruangrupa wurde eingeladen – das ist Fakt

Statt nun zu versuchen, ihren Kopf zu retten, wäre es an ihr, endlich die Gespräche zu initiieren, die sie offenbar nicht geführt hat. Sie sollte in der öffentlichen Debatte nicht noch die Gräben vergrößern, die doch schon jetzt unüberwindbar sind. Statt einzustimmen in den Chor der vorschnellen Basta-Ansagen, wäre sie diejenige, die in dieser dramatischen Situation endlich an Gespräch und Annäherung appellieren sollte und das in die Wege leiten, was offenbar alle versäumt haben: auf Vermittlung zu setzen, auf offene Begegnungen statt auf naive Toleranz. Statt sich von Ruangrupa zu distanzieren, wäre es sinnvoller, wenigstens daran zu erinnern, dass man das Kollektiv eingeladen hat, eben weil man solche Konflikte doch eigentlich überwinden will.

Der Schaden, den diese Hauruck-Politik anrichtet, ist immens. Sie tut nicht nur den vielen Hunderten Künstlerinnen und Künstlern unrecht, die nun in Misskredit geraten sind, was weder fair noch hinnehmbar ist. Die Documenta fifteen hat die öffentliche Hand aber auch 42 Millionen Euro gekostet. Der Boykott der Schau, zu der der Kanzler implizit aufruft, wird ein riesiges Loch in die Kasse reißen. Das wird auch dazu führen, dass man in Kassel künftig wohl nie mehr so frei und von der Politik gestützt Kunst wird zeigen können. Die größte Tragödie ist aber, dass diese vermeintlich laute Debatte in Wahrheit die völlige Unfähigkeit zu einem konstruktiven Dialog verrät. Deshalb hüllt sich nicht nur Ruangrupa in Schweigen, sondern duckt sich auch der gesamte Kulturbetrieb auffällig unauffällig weg.