Der Filmemacher Sebastian Heinzel hat im Sommer vergangenen Jahres drei Wochen lang die Proben für das integrative Tanzprojekt „Carmina Burana“ in Welzheim begleitet. Nun ist sein 80-minütiger Dokumentarfilm „Carmina – Es lebe der Unterschied!“ fertig.

Alle reden von Inklusion. Der Film „Carmina – Es lebe der Unterschied!“ zeigt, wie sie gelingt. Der Filmemacher Sebastian Heinzel aus Loßburg (Landkreis Freudenstadt) hat für seinen Dokumentarfilm ein integratives Tanzprojekt der Christopherus Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Laufenmühle bei Welzheim vom Beginn bis zur Aufführung im Juli des vergangenen Jahres begleitet. Rund 300 Akteure mit und ohne Behinderungen haben damals Carl Orffs Oper „Carmina Burana“ vor mehreren tausend Zuschauern aufgeführt. Sebastian Heinzels Film zeigt die Proben, die Höhe- und die Tiefpunkte – und ein Happy End.
Herr Heinzel, wie war Ihre Reaktion auf die Anfrage, einen Film über ein inklusives Tanzprojekt zu drehen?
Ich war gleich Feuer und Flamme. Meinen Auslandszivildienst in den USA habe ich in Pennsylvania in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gemacht. Das hat mich stark geprägt. Ich hatte also überhaupt keine Berührungsängste. So ist auch ganz schnell die Idee entstanden, Menschen mit Behinderungen auch ins Filmteam einzubeziehen.
Sie waren also nicht die Einzigen, die mit Kameras unterwegs waren...
Das stimmt, es gab auch ein inklusives Filmteam mit zwei Bewohnern der Laufenmühle und vier Schülern. Sie hatten eine Kamera für sich. Thomas Vogel aus der Laufenmühle war besonders eifrig. Er stand jeden Tag bei uns vor der Tür und hat die Kamera eingefordert. Wir hatten dem Team in einem Workshop grundsätzlich erklärt, wie man eine Kamera bedient und worauf man als Filmer achten muss. Aber im Fall von Thomas Vogel war das kein großes Thema: Er hatte eigene Vorstellungen und Ideen, was er drehen wollte.
Was ist Ihre eigene Vorstellung vom Filmen?
Ich will nicht Filme über Menschen machen, sondern mit Menschen. Bei „Carmina – Es lebe der Unterschied!“ war mein Hauptziel zu zeigen, wie sich die zwei Gruppen, die Bewohner der Laufenmühle und die Schüler der Welzheimer Janusz-Korczak-Schule und der Albertville-Realschule Winnenden, begegnen und wie stark die Berührungsängste sind. Da muss man im richtigen Moment am richtigen Platz sein. Deshalb haben wir uns entschieden, mit zwei Kameras zu drehen.
Der Choreograf Wolfgang Stange sagt im Film, das Perfekte sei langweilig...
Das sehe ich genauso. Gerade bei dokumentarischen Arbeiten geht es nicht darum, perfekte Bilder zu sammeln, sondern wahrhaftige Momente einzufangen.
Im Film halten Sie sich mit Äußerungen komplett zurück.
Bei meinen Filmen verzichte ich in der Regel auf einen Kommentar. Es ist besser, wenn die Szenen für sich sprechen.
Mussten Sie sich auf dieses Projekt anders vorbereiten, als Sie es sonst tun?
Ich lasse mich immer gerne überraschen von dem, was beim Drehen passiert. Die Arbeit mit behinderten Menschen kommt meiner Arbeitsweise total entgegen. Es gab sehr viele witzige, überraschende Wendungen und auch viele berührende Momente. Absolut in der Gegenwart präsent zu sein, ist eine Qualität vieler Menschen in der Laufenmühle. Die Schüler hatten viel größere Probleme, sich auf Neues einzulassen.
Genau das hat zu Schwierigkeiten geführt...
Es ist sogar zum Hauptkonflikt für die Choreografen geworden. Sie haben bemerkt, dass bei diesem Tanzprojekt nicht die Menschen mit Behinderungen ein Problem sind, sondern dass die Schwierigkeit darin besteht, bei den Schülern die nötige Konzentration herzustellen.
Womit hatten Sie selbst am meisten zu kämpfen?
Drei Wochen Drehzeit sind eher kurz. Die größte Herausforderung war, aus der Masse von 150 Leuten den oder die Protagonisten des Films herauszufiltern. Aber wir haben geschaut und darauf vertraut, dass wir jemanden finden.
Was prompt geklappt hat. ..
Ja, irgendwann war klar, dass zum Beispiel der Schüler Ali zu den Hauptfiguren gehören würde. Er hat anfangs mitgemacht, ist aber irgendwann nur noch am Rand gesessen, weil er sich doch nicht mehr getraut hat. Zu diesem Zeitpunkt war nicht klar, dass er am Ende vor einigen tausend Zuschauern ein Solo tanzen würde. Das war auch für mich eine Überraschung. Ich hätte nicht gedacht, dass das so klappt. Oder zum Beispiel der Schüler Lukas, der am Anfang keinen behinderten Menschen berühren wollte und der am Schluss hinter der Bühne Arm in Arm mit Florens steht.
Sie waren drei Wochen lang ständig mit der Kamera präsent. Hat das niemanden gestört?
Als Dokumentarfilmer versuche ich von Anfang an, ein Vertrauensverhältnis zu meinen Protagonisten aufzubauen. Wolfgang Stange und Volker Eisenach hatten volles Vertrauen in uns. Es gab nur einen heiklen Moment kurz vor der Aufführung. Da hatten die beiden Choreografen Bedenken, dass es stören könnte, wenn wir während der Aufführung hinter der Bühne drehen. Wir haben das dann bei der Generalprobe getestet und am Ende durften wir doch dabei sein. Für uns war das, was hinter der Bühne läuft, viel wichtiger, als das, was auf der Bühne läuft.
Vor zehn Jahren kam der Dokumentarfilm „Rhythm is it“ ins Kino . Er schildert, wie 250 Kinder mit nicht gerade idealen Startbedingungen unter dem Choreografen Royston Maldoom Stravinskys Ballett „Le sacre du printemps“ aufführen und dabei reifen. Sehen Sie Parallelen zu „Carmina“?
„Rhythm is it“ habe ich vor Jahren im Kino gesehen. Ein großartiger Film, aber ich habe ihn mir im Vorfeld des Drehs nicht nochmals angeschaut und es geht dabei auch um etwas anderes als in Carmina. Dort lag der Schwerpunkt auf den Schülern, in meinem Film geht es um Inklusion – wie wachsen Gruppen zusammen und wie können sich Berührungsängste verflüchtigen.
Gibt es auch Szenen, die Sie als nicht filmtauglich eingestuft haben?
Es gibt schon Momente, die ich bewusst weggelassen habe, um niemanden bloßzustellen. Ich halte aber alle Szenen, die jetzt zu sehen sind, für vertretbar.
Ihr Film ist rund 80 Minuten lang. Wie viel Material hatten Sie zur Verfügung?
Wir haben 80 Stunden Filmmaterial gesammelt. Dieses zu sichten und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen kostete die meiste Zeit. Wir haben zu zweit ein halbes Jahr dafür gebraucht. Es sind viele schöne Szenen dabei, die mir wichtig sind, die ich aber weglassen musste, weil sie zu stark von der Erzählung ablenken. Im Film geht es ja um einen künstlerischen Prozess – darum, wie solch eine Aufführung entsteht. Aber ich plane ein weiteres Projekt mit Beteiligten der Carmina.
Worum geht es dabei?
Das Thema sind individuelle Lebensträume und Visionen von Schülern und Bewohnern der Laufenmühle, die wir visualisieren wollen. Daraus sollen Kurzfilme entstehen, die in ein Bühnenprogramm integriert werden, mit dem man auf Tour gehen kann. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Verraten Sie uns ein Beispiel, wovon die Kurzfilme handeln?
Thomas Vogel hat die Vorstellung, dass er ein bedeutender Staatsmann ist. Er soll erzählen, was er verändern würde, wenn es in seiner Macht stünde. Vielleicht schaffen wir es sogar, dass er eine Rede im Stuttgarter Landtag halten darf. Der Schüler Lukas orientiert sich gerade beruflich vor dem Abschluss. Er soll die Chance bekommen, darüber seinen ersten eigenen Film zu drehen. Und dann sind da Ali und Jura, denen Wolfgang Stange versprochen hatte, dass er sie zu sich nach London einlädt, wenn sie ein Solo tanzen. Das will er einlösen, und wir wollen die zwei begleiten.
Und was wird aus „Carmina – Es lebe der Unterschied!“?
Der Film hatte bei den 36. Biberacher Filmfestspielen am 31. Oktober und 1. November Premiere. Auf persönliche Einladung des Intendanten Adrian Kutter hin lief „Carmina – Es lebe der Unterschied!“ im Wettbewerb um den besten Dokumentarfilm. Wir hatten zwei grandiose Aufführungen, bei denen auch Schüler und Tänzer dabei waren. Das Publikum ist in den Vorstellungen richtig mitgegangen, es wurde gelacht und geweint. Ich glaube, dass viele begeistert waren von der Strahlkraft des Projekts. Es zeigt auf besondere Weise, wie zwei Gruppen zusammenfinden, die unterschiedlicher nicht sein könnten.