Die Stuttgarter Regisseurin Sigrid Klausmann-Sittler versucht den vorurteilsfreien Blick auf die Heimerziehung. Die Dreharbeiten glichen einer Gratwanderung. Am Sonntag feiert der Dokumentarfilm Premiere.

Stuttgart - Es ist der richtige Moment, die Kamera auszuschalten. Oder eben genau der falsche. Tatjana sitzt auf ihrem Bett. Die Haare hängen ihr ins Gesicht. Sie tropft eher vor sich hin, als dass sie weint. „Irgendwas fehlt mir“, sagt sie immer wieder. Die Stuttgarter Regisseurin Sigrid Klausmann-Sittler erlaubt ihrem Kameramann Jean Christophe Blavier, bis 2001 Mitglied des Stuttgarter Balletts, heute Filmemacher, die Linse auf das Leid des Mädchens zu richten. Denn Tatjana scheint jetzt bereit, mehr von sich preiszugeben. Der Zuschauer könnte vielleicht erfahren, warum die 17-Jährige immer wieder an ihrem Leben verzweifelt. Doch nur kurze Weile wird die Szene gefilmt. Dann gibt Klausmann-Sittler Blavier ein Zeichen, dass er ausschalten soll. Sigrid Klausmann-Sittler muss nicht mehr Regisseurin sein. Sie kann jetzt endlich den Arm um Tatjana legen.

 

Es ist durchaus glaubwürdig, wenn Sigrid Klausmann-Sittler sagt, dass die Dreharbeiten an ihrem Dokumentarfilm „DaHeim“ auch für sie bisweilen einer Gratwanderung glichen. Sie hätte keinesfalls einen Imagefilm für die Heimerziehung drehen wollen, sagt sie. „Mir ging es darum zu sehen, wie die Kinder wirklich sind, über die doch viel gemutmaßt wird“, sagt sie. Gemeinsam mit Jean Christophe Blavier machte sie sich auf die Suche nach Jugendlichen, die aus allen Normen der Leistungsgesellschaft fallen.

Diagnose ADHS

Sie fand sie in den betreuten Wohngruppen der Stiftung Tragwerk in Kirchheim unter Teck. Brian, zwölf Jahre alt, galt als nicht beschulbar, weil seine Wutausbrüche in regelrechter Raserei endeten. Auch die Familie kam mit dem Jungen nicht mehr klar. Ärzte stellten ihm wie so vielen Verhaltensauffälligen die Diagnose ADHS. Dominik, ein paar Jahre älter als Brian, gehört gleichfalls zu denjenigen, die sich in Schule und Familie nicht einfügen konnten. Tatjana wiederum gibt dem Zuschauer Rätsel auf. Sie wirkt eine Spur zu zerbrechlich für ihr Alter. Doch Verzweiflung ist ihr nicht ins Gesicht geschrieben. Genauso wenig wie die Tatsache, dass ihre Eltern süchtig sind und sie im Heim eine Chance bekommen sollte ohne diesen Einfluss irgendwie erwachsen zu werden.

Klausmann-Sittler und ihr Team hat Tatjana, Brian und Dominik für eine Weile begleitet. Im Hintergrund wirft der Film die Frage auf, ob es Erziehern möglich ist, Familie zumindest zum Teil zu ersetzen. Eine endgültige Antwort könne sie nicht geben, sagt die Regisseurin. Aber Respekt vor der im Zeichen von Missbrauchsskandalen immer wieder argwöhnisch betrachteten Berufsgruppe möge der Film hoffentlich wecken, sagt Sigrid Klausmann-Sittler. „Ich habe nur eine Antwort, auf die Frage, wie Erzieher mit ihrem Job fertig werden: Aushalten, aushalten, aushalten“, sagt sie. Respekt verdiene aber auch die Lebensleistung der Jugendlichen. „Den Kindern fehlt oft ein Fundament, von dem sie zehren können, wenn es schwierig wird, sagt Klausmann-Sittler. „Eine Erzieherin hat das mal mit einem Kartenhaus verglichen, das dringend eine Stütze von außen braucht, um nicht zusammenzubrechen.“

Dominik hat nach längerer Zeit im Heim eine Lehrstelle gefunden. Tatjana bereitet sich auf ihr Abitur vor. Ob Brian, wie Klausmann-Sittler es ausdrückt, die Kurve kriegen wird, weiß er selbst im Moment vielleicht am wenigsten. Klausmann-Sittler ist er aber jenseits aller Professionalität offenbar genauso ans Herz gewachsen wie die beiden anderen Jugendlichen. Sie habe Brian gesehen und sofort gewusst, dass er der Richtige für den Film sein, sagt sie. „Ich habe gleich gemerkt, dass ist im Grunde ein guter Kerl.“