Lance Armstrong werden seine sieben Siege bei der Tour de France aberkannt. Einer der größten Sportler aller Zeiten geht damit offiziell als einer größten Betrüger des Sports in die Geschichte ein. Selten ist ein Athlet tiefer gefallen als der 41-Jährige.
Genf - Die Zukunft des Radsports beginnt um 13.02 Uhr. Pat McQuaid sitzt an einem Tisch in Genf, vor ihm zahllose Mikros. Der Präsident des Weltverbandes UCI verkündet in dieser Minute eine Stunde null. Einen Neuanfang. Mal wieder. Der Verband, selbst Teil des Problems, hat das oft getan, immer dann, wenn dem Sport das Wasser bis zum Hals stand. McQuaid sagt, dass die UCI das Urteil der US-Antidopingbehörde (Usada) übernimmt und eine neue Zeit beginne.
Lance Armstrong werden wegen Dopings alle sieben Tour-de-France-Siege aberkannt, er wird lebenslang gesperrt. „Lance Armstrong gehört nicht mehr zum Radsport“, sagt McQuaid. Es war so erwartet worden, nachdem die Usada alle Unterlagen der Ermittlungen gegen die einstige Sportikone transparent ins Netz gestellt hatte und der Welt ein perfides Dopingsystem offenbarte. Es ist das Ende einer der größten Geschichten des Sports.
Lance Armstrong war eine Legende. Einer der besten Sportler, die die Welt je gesehen hat. Er hat das schwerste Radrennen der Welt sieben Mal gewonnen. Er hat die Berge besiegt. Er hat den Krebs besiegt. Das hat ihn zu einem Menschen gemacht, der größer war als der Sport. Der rhetorisch brillante Armstrong verkehrte mit den Mächtigsten der Welt, war auf Du und Du mit Staatspräsidenten, die sich in seinem Glanz sonnten. Manche sahen in ihm gar einen modernen Messias auf zwei Rädern.
Nun wird er als einer größten Betrüger des Sports in die Geschichte eingehen. Ein Hochstapler. Armstrong bewegte die Beine, doch sein Antrieb war ein Motor aus der Tuningwerkstatt Ferrari, von Leistungsveredler Doktor Michele Ferrari, von Armstrong „Schumi“ genannt. Im Lauf der Jahre hat der Texaner 1 029 754,31 Dollar an Dottore Ferrari überwiesen. Lance Armstrong wird 1992 Profi im Team Motorola und fährt Rennen in Europa. Radsport auf dem Kontinent ist anders, so berichten es viele Fahrer in ihren Aussagen gegenüber den amerikanischen Behörden. Schneller. Härter. Schmutziger. Der Radsport hat ein Dopingproblem, so, wie er es immer schon gehabt hat. Viele Fahrer sind Apotheken auf Rädern. Als Profisportlich überleben oder aussteigen. Eine andere Option scheint es nicht zu geben. Die Grenzen sind fließend, jeder Täter ist auch ein Opfer in dieser Maschinerie, in der seit Jahrzehnten Doping ein Treibstoff ist. Es geht um eine perfide Art von „Balance of Power“, um ein Gleichgewicht der Mittel. Lance Armstrong akklimatisiert sich schnell. Bereits 1993 sorgt er für Aufsehen. Er gewinnt eine Etappe bei der Tour de France, im Herbst wird er Weltmeister.
Viele Fahrer sind Apotheken auf Räder
Das Blutdopingmittel Epo verändert den Radsport. Als Armstrong und sein Team 1995 beim Klassiker Mailand–San Remo chancenlos sind, so berichtet es sein getreuer Helfer George Hincapie, soll Armstrong getobt haben: „Lance sagte sinngemäß: ‚Das ist Bullshit, die Leute nehmen doch Zeugs und: ‚Wir werden gekillt‘.“ Es müsse etwas getan werden. Armstrong arbeitet von da an mit Michele Ferrari zusammen, im Feld wird er „Dottore Epo“ genannt. Epo, so sagt das Mastermind des Dopings und eine der Schlüsselfiguren der Szene, sei so gefährlich wie Orangensaft.
Das Epo-Zeitalter hat begonnen.
Armstrong hat den Krebs besiegt
Armstrongs Karriere endet am 2. Oktober 1996. Bei ihm wird Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Im Hospital gibt er angeblich zu, Epo, Testosteron, Wachstumshormon, Kortison und Steroide genommen zu haben. In seinem Körper haben sich Lymphknotenmetastasen im Bauchraum sowie in der Lunge und zwei Tumore im Gehirn gebildet. Zwei Operationen und eine vier Zyklen beinhaltende Chemotherapie schließen sich an. Lance Armstrong überlebt, er wird geheilt, und er wird fortan überlebensgroß werden. Lance Armstrong kehrt im Frühjahr 1998 zurück. Er fährt nun für US Postal. Es ist das Jahr, in dem der Skandal bei der Tour de France um das flächendeckende Doping in dem Rennstall Festina, für den Stars wie Alex Zülle, Christophe Moreau, Weltmeister Laurent Brochard oder Richard Virenque fahren, dem Produkt Radsport ernsthaft schadet. Armstrong ist nicht am Start. 1999 entsteht der Planet Armstrong, der diesen Sport lange dominieren wird. Exprofi Johan Bruyneel avanciert zum Teamchef bei US Postal, in seinem Gefolge wird Luis García del Moral Arzt in der Euqipe. Der Mediziner geht ziemlich offensiv mit dem Thema Doping um und stellt detaillierte Pläne auf, von nun an folgt Doping einem Masterplan. Er habe jedem Fahrer genau gesagt, wann er Wachstumshormone oder Epo nehmen müsse, hat der Exprofi Jonathan Vaughters den Ermittlern erzählt. Das systematische Doping im Team US Postal beginnt.
Ein Blendfeuer für die Kritiker
Im Jahr eins nach Festina gewinnt Lance Armstrong die Tour de France. Die Organisatoren haben das Rennen im Vorfeld als„Tour der Erneuerung“ bezeichnet. Die ausgerufene Renaissance des Radsports beginnt mit einem vom Krebs geheilten Sieger. Medien sprechen vom „Comeback des Jahrhunderts“. Ein perfektes Blendfeuer für all die Kritiker. Armstrong galt bis dato nicht als Spezialist für lange Rundfahrten, doch nun überstrahlt seine Geschichte alle Zweifel. Sein Kampf gegen den Krebs mit seiner Stiftung macht ihn zu einer nur schwer angreifbaren moralischen Instanz, er sammelt Hunderte von Millionen Dollar an Spenden.
Ganz anders spricht das Peloton. Es geht das Gerücht um, dass Armstrong ein Mittel benutzte, das die Raumfahrtbehörde Nasa entwickelt habe. Zeit seiner Karriere glaubt die Konkurrenz, dass Armstrong den Heiligen Gral des Dopings gefunden hat. Vaughters berichtet von einem Gespräch mit Teamchef Bruyneel über das Gerede: „Johan sagte, wenn die nur wüssten, dass wir die gleiche Menge nehmen wie früher bei Once (seinem ehemaligen Rennstall), tatsächlich sogar weniger.“ Als einziger Profi spricht Christophe Bassons während der Tour de France 1999 offen über Doping und meldet Zweifel an Armstrong an. Er macht sich damit einen mächtigen Feind.
Feiernd auf der Champs Elysees: Lance Armstrongdapd
Bassons bekommt das zu spüren. Nach seinen Aussagen gilt er als Nestbeschmutzer, die Tour 1999 gibt er psychisch zerstört auf. Zwei Jahre später beendet er seine Karriere. Ein anderer kämpft gegen den Paten. Filippo Simeoni ist Armstrongs Erzfeind. Der Italiener war auch Kunde bei Armstrongs Arzt Ferrari und belastete den Doktor, weshalb sich Armstrong ebenfalls Fragen zu seiner Beziehung mit dem Doktor stellen musste. 2004 duellieren sie sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Bei der Tour de France verhindert Armstrong persönlich einen Fluchtversuch von Simeoni, obwohl der für die Gesamtwertung keine Rolle spielte. Ein sportliche Hinrichtung auf offener Bühne. „Ich habe nur das Feld verteidigt“, sagt Armstrong. Laut Simeoni habe er gedroht: „Ich habe viel Zeit und Geld und kann dich zerstören.“
Der Radprofi teilte die Welt in Gut und Böse
Lance Armstrong hat die Welt in Gut und Böse eingeteilt. Wie weiland George W. Bush alle vor eine Wahl gestellt hat, so hat es auch der Bush-Kumpel L. A. getan: man ist entweder für oder gegen ihn. „Es gab keine neutrale Zone“, sagt der Ex-Teamkollege Christian Vandevelde. Auch in seinem eigenen Team ist Armstrong unantastbar. Die Kollegen beschreiben US Postal als sektenhaftes Gebilde mit einem Guru, der alles bestimmte. Es heißt, dass Johan Bruyneel in einer Minute entlassen worden wäre, wenn Armstrong es gewollt hätte. Die Usada kommt zu dem Schluss, dass der Texaner über die absolute Macht im Team verfügte und alles entschied. Er teilt auch das sogenannte „A-Team“ ein, jene Fahrer, die für die Tour als Helfer infrage kommen und die beste medizinische Betreuung erhalten.
Christian Vandevelde ist 2002 unzufrieden, er hält sich nicht konsequent an die Medikation, ist widerwillig und stellt Fragen. Seine Zukunft bei US Postal ist offen. Lance Armstrong stellt ihn vor die Wahl: „Lance sagte mir, dass, wenn ich weiter für US Postal fahren will, ich nehmen muss, was Doktor Ferrari sagt und dass ich mich exakt an den Plan von ihm halten muss.“
Ähnlich gnadenlos geht er mit Tyler Hamilton um, als der US Postal verlässt und kurz vor der Tour 2004 in bedrohlich guter Form ist. Armstrong soll laut Aussage des Teamkollegen Floyd Landis den UCI-Präsident Hein Verbruggen angerufen und aufgefordert haben, sich um Hamilton zu kümmern. Hamilton bekommt kurz darauf einen Brief von der UCI mit dem Hinweis, dass er unter Beobachtung stehe und sein Profil abnormale Werte aufweise.
Ein Pakt mit dem Teufel?
Für Lance Armstrong ist er einfach „Hein“. Der mächtigste Mann des Radsports, der damalige UCI-Präsident Verbruggen. Er gilt als einer der umstrittensten Sportfunktionäre überhaupt, er ist ein Kumpel des Texaners. Es ist eine erfolgreiche Symbiose, beide profitieren voneinander. Ein Pakt der Teufel?Immer wieder tauchen positive Proben auf. 1999 wird Armstrong auf ein Kortikoid positiv getestet, ein nachträglich eingereichtes Rezept verhindert Folgen. 2001 ist er angeblich bei der Tour de Suisse positiv auf Epo getestet worden, kurz darauf gibt es ein Treffen im UCI-Hauptquartier. Armstrong sagt, dass er dort nur die neuen Räumlichkeiten besichtigt habe. Er spendet 125 000 Dollar an die UCI. Der Dopingkronzeuge Jörg Jaksche, der umfassend über systematisches Doping im Radsport ausgepackt hat, erzählt, dass sich die UCI nie für seine Aussagen interessiert habe. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen? Verbruggen beteuert auch jetzt noch weiter: „Alles was ich sagen kann, ist, dass es viele Geschichten und Verdächtigungen gibt, aber keine Spur von Beweisen.“
Ein Frühwarnsystem half Armstrong beim Betrügen
Offiziell bleibt ein Jahrzehnt des systematischen Dopings unerkannt. Es muss, so sagt es ein Fahrer der Usada, eine Art Frühwarnsystem gegeben haben. Man habe immer eine Stunde vorher gewusst, dass ein Kontrolleur komme. Armstrong hat ein Netz aus Informanten gebildet, der Wissensvorsprung schützt alle. Er ist bestens informiert über neue Testmethoden. Als ein neues Epo-Nachweisverfahren auf den Markt kommt, weiß er längst davon.
2001 macht ein Wundermittel namens Aranesp die Runde. Auch in der Equipe von Armstrong wird darüber gesprochen. Der Patron rät davon ab, es sei leicht nachweisbar, sagt er. Man lässt die Finger davon, zu gefährlich. Bei den Olympischen Winterspielen 2002 in Salt Lake City fliegen die Langläufer Johann Mühlegg, Larissa Lazutina und Olga Danilowa mit Aranesp auf. Die Antidopingjäger feiern ihren Coup.
Armstrong bleibt unentdeckt, Angst haben sie im Team nicht. Sie fühlen sich sicher in dem Kokon, den Armstrong kreiert hat. Blutbeutel lagern nach Aussagen von Teamkollegen bei ihm im Kühlschrank. Bei der Tour de France 2003 führt er vor einem langen Zeitfahren einen Beutel frisches Blut zu. „Ich bin jetzt 500 Gramm schwerer“, sagt er laut George Hincapie. Das Junkietum führt auch zu einer Kleiderordnung. Man habe langärmlige Shirts tragen sollen, so erzählt es Armstrongs Helfer Hincapie, „um die Einstiche zu verdecken“.
Armstrong wird von Mitstreitern geschützt
Trotz zahlloser Vorwürfe und Indizien passiert nichts. Noch im Juli 2010 sagt Verbruggens Nachfolger als UCI-Präsident, Pat McQuaid: „Armstrong ist ein unglaublicher Athlet, der sich im Kampf gegen Krebs engagiert. Ich bin auf seiner Seite, weil er einer der größten ist. Doping gibt es seit Hunderten von Jahren. Wollen wir immer zurückgehen und Ermittlungen eröffnen nach Vorwürfen von irgendeiner Seite?“
Die Antidopingbehörde der USA stellt im Oktober 2012 fest, dass dies das „ausgeklügeltste, professionellste und erfolgreichste Dopingprogramm ist, das der Sport je gesehen hat“. Zu viel der Ehre. Er mag der größte Betrüger (in einem Feld voller Hochstapler) gewesen sein, aber das System Armstrong ist sicher nicht der größte Betrug der Geschichte, wenn man bedenkt, dass ganze Staaten in den 1980er Jahren im kalten Sportkrieg ihre Sportler quer durch die Disziplinen gemästet haben.