Das Dorotheenquartier liegt im ältesten Siedlungskern Stuttgarts. Von Montag an reißt die EnBW die Straßen auf. Ob archäologische Funde zu erwarten sind, ist unklar – der Historiker Harald Schukraft hält dies aber für sehr wahrscheinlich.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Nun geht es los: Am Montag rückt die EnBW mit mehreren Trupps an, um in den Straßen zwischen dem Karlsplatz und Breuninger auf 460 Metern Länge die Strom-, Wasser und Gasleitungen zu kappen oder neu zu verlegen. Dies ist notwendig, um das Baufeld vorzubereiten, auf dem in den nächsten Jahren das Dorotheenquartier mit seinen drei großen Baublöcken entstehen soll. Betroffen sind die Dorotheen-, die Holz-, die Leder- und die Sporerstraße. Bis Juni soll die EnBW fertig sein – parallel dazu läuft die Entkernung und der Abriss des Innenministeriums an der Dorotheenstraße.

 

Der Stuttgarter Historiker Harald Schukraft sieht diese Arbeiten mit einer gewissen Sorge. Er kennt sich so gut in der Stuttgarter Geschichte aus, dass er beinahe aus dem Gedächtnis sagen kann, wo früher welches Gebäude stand – und wo deshalb im Untergrund noch alte Gewölbe, Gräben oder Fundamente schlummern könnten. Auf dem Baufeld des Dorotheenquartiers, das bereits seit der Gründung der Stadt, also seit rund 1000 Jahren, besiedelt ist, sieht er gleich drei mögliche sensible Bereiche.

Im Stadtgraben haben die Menschen ihren Müll entsorgt

Erstens sei quer zur Sporerstraße, zwischen Breuninger und Betten-Braun, früher die Stadtmauer mit dem Graben verlaufen. Da die Menschen damals die Angewohnheit hatten, ausgediente Gegenstände im Wassergraben zu entsorgen, könnten dort Funde zur Alltagsgeschichte Stuttgarts zum Vorschein kommen. Zweitens habe in der Karlstraße früher die „Metzig“, das städtische Schlachthaus, gestanden – die von 1880 stammenden Gewölbe, die dort über den Nesenbach führen, müssten laut Schukraft noch vorhanden sein. Unter einem als Parkplatz genutzten Grundstück hält er sogar frühneuzeitliche Keller und Mauern für denkbar, da die Fläche nach 1945 nicht wieder bebaut worden sei.

Drittens rage der Grundriss des 1599 begonnenen „Neuen Baus“ in die heutige Dorotheenstraße hinein, zwischen Markthalle und Altem Schlosses. Trotz des schlichten Namens war der Renaissancebau von Heinrich Schickhardt eines der prächtigsten fürstlichen Gebäude in deutschen Landen; es brannte im 18. Jahrhundert ab.

Harald Schukraft hat viele Vorschläge. Im früheren Wassergraben müsste ein Profilschnitt angestrengt werden, sagt er. Die Überreste der Metzig könnten in eine schicke Gastronomie integriert werden. Und der Umriss des „Neuen Baus“ solle im Straßenpflaster sichtbar gemacht werden.

Planungen, das Alte sichtbar zu machen, gibt es nicht

Doch vorausschauende archäologische Grabungen oder sonstige Überlegungen, an die alten Stadtreste zu erinnern, gibt es nicht. Den Eingaben von Harald Schukraft und vom Regierungspräsidium Stuttgart ist es zu verdanken, dass im Bebauungsplan zumindest Vorkehrungen getroffen worden sind. Es sei eine archäologische Baustellenbegleitung sinnvoll, heißt es dort; bei entsprechenden Funden werden Grabungen und die „Sichtbarmachung von Funden in der Neubebauung“ angeregt.

Doch der Archäologe Andreas Thiel vom Landesdenkmalamt in Esslingen räumt ein, dass man vielleicht mal vorbeischauen werde, aber sicher nicht die ganze Zeit auf der Baustelle sein werde; dazu habe man nicht das Personal. Das Gebiet sei aber sensibel, der Bauherr wisse Bescheid – und in einer halben Stunde könne man vor Ort sein, falls etwas entdeckt werde. Bedeutende Funde erwartet Thiel aber nicht: Zu häufig sei in dem Gebiet im Untergrund gebaut worden, auch auf den Straßen, als dass großflächige Überreste zu erwarten seien.

EnBW hält archäologische Funde nicht für wahrscheinlich

Jürgen Kaupp, Sprecher der EnBW in Stuttgart, ist ebenfalls skeptisch: Denn schon lange lägen in fast allen Straßen im Quartier Versorgungsleitungen – die meisten in ein bis zwei Metern Tiefe, in der Dorotheenstraße befinde sich ein Abwasserkanal sogar in sechs Meter Tiefe. Und da die EnBW fast ausschließlich dort grabe, wo schon Leitungen seien, sei die Chance gering, auf Überreste zu stoßen. Vorkehrungen wurden nicht getroffen. Im Gegenteil, die Arbeiter haben einen straffen Zeitplan und müssen zügig vorankommen. Christian Witt, der Sprecher des Bauherrn Breuninger, betont aber, dass alle beteiligten Baufirmen sensibilisiert worden seien. Zudem nehme man aus technischen Gründen Probebohrungen vor; dabei könnten auch archäologische Reste erkannt werden.

Eine kleine historische Wiederentdeckung steht übrigens schon vor Baubeginn fest: Der Entwurf sieht vor, zwischen den neuen Gebäuden den Verlauf einer Gasse zu rekonstruieren, die durch den Bau des Innenministeriums verschwunden war.