Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), macht sich in der Corona-Krise große Sorgen – über den Mitgliederrückgang in den Vereinen, die Hürden auf dem Weg zu staatlichen Hilfen und die Olympischen Spiele in Tokio.

Sulzberg - Alfons Hörmann sitzt entspannt im Wohnzimmer seines schmucken Eigenheims im Allgäu, genießt beim Blick aus dem Fenster das Panorama. Doch das Bild täuscht. Der DOSB-Chef ist tief beunruhigt: „Der deutsche Sport erlebt die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt er, „es geht nur um die Aufgabe, Schäden abzuwenden.“

 

Herr Hörmann, wie teuer kommt die Corona-Krise den deutschen Sport zu stehen?

Das lässt sich heute noch nicht ansatzweise genau und solide beziffern.

Trotzdem gibt es Zahlen.

Ja, erste Prognosen für Teilbereiche liegen nun vor.

Wie lauten diese?

Vor einem halben Jahr habe ich gesagt, dass sich das Minus im Bereich von mehr als einer Milliarde Euro bewegen wird. Mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass wir wohl ganz andere Dimensionen erreichen werden.

Warum?

Weil es um zwei Dinge geht. Erstens um die rein finanziellen Schäden – vor allem durch fehlende Zuschauereinnahmen, Spieltag für Spieltag. Da werden stattliche Summen zusammenkommen.

Und zweitens?

Gibt es viele kleine, mittlere und auch größere Vereine, die mir klipp und klar sagen: Rein wirtschaftlich lösen wir die Dinge schon.

Wie?

Da sind wir beim Problem. Denn um genau die Summe, die weniger in die Kasse kommt, wird das Angebot zusammengestrichen. Das führt zu einer Bewegungsunfähigkeit und zu mangelnden Aktivitäten in den Vereinen. Zuerst kann ein Sommerfest nicht stattfinden, das hat dann Auswirkungen aufs Nachwuchscamp und das Trainingslager der Aktiven. Dies wiederum führt zwangsläufig zu einem Verlust an Mitgliedern, die sich fragen, warum sie eigentlich noch bleiben sollen, wenn sie weniger geboten bekommen. Letztlich wird dadurch eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die mittel- und langfristig gefährlich werden kann.

„Am Ende spielt es keine Rolle, ob ein Verein zu wenig Geld oder zu wenig Ehrenamtliche hat.“

Bedroht die Corona-Krise folglich die Vielfalt des deutschen Sports?

Ganz klar und eindeutig: ja! Aktuell erklären zwei Drittel der Spitzensportverbände im DOSB, nicht hundertprozentig genau zu wissen, ob ihre Existenz für die nächsten 15 Monate gesichert ist. Zugleich gibt es die Prognose, dass ein Mitgliederrückgang in den Vereinen zwischen fünf und 15 Prozent droht, was deutschlandweit einer Zahl zwischen zwei und vier Millionen weniger Mitgliedschaften entspricht – das wäre erheblich. Parallel dazu haben wir derzeit im Sport rund acht Millionen ehrenamtlich Engagierte. Auch diese Zahl wird kleiner werden, das ist leider schon deutlich erkennbar.

Was bedeutet das?

Dass am Ende keine Rolle spielt, ob ein Verein zu wenig Geld oder zu wenig Ehrenamtliche hat – beides führt zu weniger Aktivität und damit auch zu einer nachlassenden Attraktivität der Vereine.

Was kann der Sport tun, um diese Krise zu bewältigen?

Eine gute Frage. Denn wer, wenn nicht der Sport, hat immer wieder bewiesen, wie pragmatisch, schnell, aktiv und verantwortungsbewusst er Probleme lösen kann. Das ist eine ungemeine Stärke des Sports. Als Musterbeispiel sehe ich die Flüchtlingskrise vor fünf Jahren. Und ich will denen ein großes Kompliment aussprechen, die auch jetzt wieder an der Basis vorbildlich agieren. Wie bei uns mit den Hygieneregeln umgegangen wird, darauf können wir als deutscher Sport stolz sein – es gab bisher keine Nachrichten über Hotspots in unserem Bereich, stattdessen kommen die Werte des Sports klar zum Tragen: Disziplin, Respekt, Fair Play, Verantwortungsbewusstsein.

Aber?

Ich bin grundsätzlich ein positiv denkender Mensch, agiere in Chancen, Perspektiven und Strategien. Doch was der deutsche Sport gerade erlebt, ist die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Aktuell geht es nur um die Aufgabe, Schäden abzuwenden.

„Es gibt keine pragmatische und schnelle Soforthilfe.“

Wie wichtig ist dabei staatliche Unterstützung?

Ich sage es ganz klar: Wir sind an einem Punkt, an dem der Sport Hilfe zur Selbsthilfe braucht. Auf Ebene der Bundesländer hat dies bisher mustergültig funktioniert, auch in Baden-Württemberg gab es basis- und praxisnahe Hilfe, die Mittel sind sehr schnell und unbürokratisch geflossen. Weit schwieriger gestaltet es sich auf Bundesebene.

Welche Erwartungen haben Sie an die Politiker in Berlin?

Dass sie erkennen, welch wichtigen und großartigen Beitrag der Sport in den vergangenen Jahrzehnten geleistet hat, derzeit leistet und in der Zukunft leisten wird – für die gesamte Gesellschaft.

Sehen die Politiker das anders?

Bei manchen ist die Erkenntnis noch nicht ganz angekommen. Wie auch bei der Frage, was für den Sport in einer solchen Sondersituation konkret getan werden muss.

Anfang Juli wurde doch ein 200 Millionen Euro dickes Hilfspaket geschnürt, das für Vereine der ersten, zweiten und dritten Ligen Ausfälle bei den Ticketeinnahmen kompensieren soll.

Die politische Willensbildung war gut gemeint, die Bezeichnung als Corona-Soforthilfe sehr vielversprechend.

Und dann?

Hätte nach menschlichem Verständnis der Name Programm sein müssen. Stattdessen hat uns ein anerkannter Experte für Zuwendungsrecht gesagt, ihm sei in den vergangenen 25 Jahren kaum ein vergleichbarer Fall auf den Tisch gekommen, in dem die Diskrepanz zwischen dem Ziel, schnell und pragmatisch zu helfen, und dem, was letztlich in den Ausführungsbestimmungen für die Vereine steht, so groß gewesen ist.

Was bedeutet das?

Es gibt keine pragmatische und schnelle Soforthilfe. Und es werden wohl nur wenige Vereine in den Genuss der Hilfe kommen.

Warum?

Weil die Vorgaben zu restriktiv sind. Die Möglichkeiten zur Ausschöpfung des Programms sind weder basis- noch praxisnah.

Mit welchen Folgen?

Einerseits gibt es kaum einen Profiverein, der nicht sofort Hilfe benötigt. Andererseits ist das Verfahren enorm kompliziert. Meine große Sorge ist, dass es am Ende heißen wird, der Sport brauche doch gar keine Unterstützung, weil der 200-Millionen-Euro-Topf nur zu einem Bruchteil abgerufen worden ist. Das wäre ein katastrophaler Schluss.

Was fordern Sie?

Das Hilfsprogramm muss auf 2021 ausgedehnt werden, und es sollten auch die Kosten für Hygienemaßnahmen erstattet werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Wir haben der Politik weitere Vorschläge zur Optimierung des Programms unterbreitet.

„Der Profifußball spielt in einer eigenen Liga.“

Neben den bürokratischen Hürden bei solchen Hilfsprogrammen gibt es ja noch eine zweite Seite der Medaille: Wie erklären Sie dem Steuerzahler, dass einem Sportsystem geholfen werden muss, in dem weiterhin zum Teil exorbitant hohe Gehälter bezahlt werden?

Da muss man die Verantwortlichkeiten klar trennen. Der Profifußball, das ist Fakt, spielt in einer eigenen Liga. Über einzelne Gehälter und Ablösesummen kann man da sicher kritisch diskutieren. Aus Sicht des DOSB müssen wir aber auch konstatieren: Es gibt keinen Ausgleich von einer Sportart zur anderen und keinen von einem Spitzenfußballer zum Beispiel auf ein Mitglied unseres Teams Deutschland.

Was denken Sie, wenn ein Verein wie der VfB Stuttgart seine Geschäftsstellenmitarbeiter in Kurzarbeit schickt und einen KfW-Kredit beantragt, zugleich aber seinen Profis Gehälter in Höhe von 45 Millionen Euro pro Jahr bezahlt?

Das zeigt, wie schwierig es ist, den Spagat zwischen wirtschaftlicher Existenzsicherung und einer sportfachlich guten Zukunft zu schaffen. So ein Vorgehen ist emotional natürlich schwer vermittelbar, andererseits schießt der Topstar morgen die Tore, die dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Geschäftsstelle auch im Jahr 2021, 2022, 2023 noch einen sicheren Job haben.

Was muss der Sport aus der Pandemie lernen?

Ein wirkungsvolles Risikomanagement. Und da sind wir vom DOSB als Dachverband sehr stark in der Verantwortung – auch für uns ist diese Krise ein unfreiwilliges, aber hartes und mittelfristig wertvolles Trainingsprogramm. Gemeinsam mit der Politik müssen wir darüber reden, wie wir die Sportorganisationen künftig noch krisensicherer aufstellen und dies auch rechtlich absichern können.

Die Entwicklung bei den Corona-Zahlen geht in die falsche Richtung, dem Sport drohen weitere Geisterspiele. Was bedeutet das, abgesehen vom monetären Aspekt?

Es fehlt die Emotionalität, auch am TV-Bildschirm. Es ist nicht die Art von Sport, die wir alle kennen, lieben und hoffentlich bald wieder schätzen werden.

Muss sich der Sport daran gewöhnen?

Entscheidend wird sein, wann der Impfstoff kommt. Ich hoffe, dass dies im Lauf des Jahres 2021 der Fall sein wird.

„Die Folgen kann sich kaum einer vorstellen.“

Werden die Olympischen Sommerspiele 2021 in Tokio stattfinden können?

Ich bin zuversichtlich – trotz aller Fragezeichen. Übrigens gilt das auch für Peking 2022, da liegt ja nur ein halbes Jahr dazwischen.

Wie soll das funktionieren?

Das lässt sich heute noch nicht genau sagen. 10 000 Athleten, noch mal so viele Betreuer, dazu Volunteers und Medienvertreter – sie alle kann man, gegebenenfalls mit Quarantänemaßnahmen, gut und sicher nach Japan bringen. Der Vorteil von Tokio ist: Die Nachfrage nach Tickets vor Ort ist so groß, dass es problemlos möglich sein wird, die Stadien kurzfristig so zu füllen, wie es die Pandemie dann zulässt. Der Preis, den wir bezahlen müssen, ist, dass es womöglich keine internationalen Zuschauer geben kann.

Wie groß wäre der Einschnitt für den internationalen Sport, sollten Tokio 2021 und Peking 2022 nicht möglich sein?

Diese Folgen kann sich kaum einer vorstellen. Das IOC schüttet 90 Prozent seiner Einnahmen an die internationalen Verbände aus. Bleibt dieses Geld aus, wäre der Weltsport nicht ansatzweise in der Lage, seine Strukturen zu erhalten – mit einem Dominoeffekt in alle Bereiche, bis hinunter zu Stützpunkten in Hinterzarten oder Schonach.

Ist angesichts dieser Krise überhaupt noch wichtig, wie viele Medaillen Deutschland bei den nächsten Spielen gewinnen wird?

Derzeit gibt es sicher weit drängendere Probleme zu lösen als die Frage nach einigen Medaillen mehr oder weniger. Auch wenn die Athleten und wir alles dafür tun werden, um trotzdem Topleistungen zu erbringen.

Ist die Corona-Krise eigentlich auch ein Brandbeschleuniger beim Thema Doping?

Das würde ich nicht so sehen. Über viele Monate hinweg konnte zwar nicht wie gewohnt getestet werden. Aber ich hoffe nicht, dass wir einen nennenswerten Rückschritt erleben werden – zumindest in Deutschland gehe ich auf keinen Fall davon aus.

Was erhoffen Sie sich vom Gerichtsprozess, der sich derzeit mit der Operation Aderlass und dem Blutdoping-Netzwerk in Erfurt befasst?

Wichtige Erkenntnisse. Auch was die Frage angeht, wie wirkungsvoll das Anti-Doping-Gesetz ist. Dieser Fall ist ein Härtetest. Wenn sich bestätigt, was bisher bekannt ist, erwarte ich drakonische Strafen.