Nach dem Flüchtlingsdrama vor Lampedusa mit mehr als 100 Toten sitzt der Schock in Italien tief. Wie kann es sein, dass so viele Menschen in unmittelbarer Nähe zur rettenden Küste sterben müssen?

Lampedusa/Italien - „Hier schwimmen überall Leichen.“ Der Anblick, der sich den Rettungsmannschaften am frühen Donnerstagmorgen vor der Insel Lampedusa bietet, ist auch für abgebrühte Helfer furchtbar. Hobbysegler haben den Großalarm ausgelöst und die ersten Überlebenden an Land gebracht. Für die anderen war die Entfernung zur Küste unüberwindlich: eine halbe Meile wäre es nur gewesen.

 

Der Hergang des Unglücks klärt sich im Lauf des Tages: Vor zwei Tagen, erzählen Überlebende aus Syrien, Somalia, Eritrea, seien sie in Libyen aufgebrochen. Nachts in Seenot geraten, hätten sie Panik bekommen, ein Feuer an Deck angezündet, um sich bemerkbar zu machen. Ob das Deck mit Benzin verschmutzt war oder die Tanks im eindringenden Wasser aufgeschwommen sind, wie die Behörden vermuten – auf jeden Fall fing das etwa 15 Meter lange Boot im Nu Feuer; die 500 Menschen an Bord sammelten sich in Todesangst auf einer Seite. Dann kenterte alles.

„Krankenwagen? Wir brauchen Leichenwagen!“

Lampedusa, die näher an Afrika als an Italien liegende Insel, hat an Flüchtlingstragödien schon viel erlebt und eigens eine Ecke seines Friedhofs freigeräumt. Doch was am Donnerstag passiert ist, hat selbst hier noch keiner gesehen. „Wir wissen nicht mehr, wohin wir die Toten und die Lebenden bringen sollen“, stöhnt die Bürgermeisterin Giusy Nicolini. „Unsere Krankenwagen?“, sagt der Leiter des medizinischen Hilfsdiensts, Pietro Bartolo: „Sie helfen nichts. Leichenwagen brauchen wir.“

Bereits in der Nacht zuvor haben Küstenwache und Finanzpolizei zwei Boote mit insgesamt 463 Flüchtlingen aus Seenot gerettet. Das Aufnahmelager, das für 350 Personen gebaut ist, muss damit wieder einmal 1350 Menschen verkraften – und das, obwohl die Schleuser ihre größten Flüchtlingsströme dieses Jahr um Lampedusa herumleiten. Sie zielen gleich aufs Festland oder auf Sizilien, da kommen die Gelandeten oder Gestrandeten notfalls zu Fuß weiter. Lampedusa ist eine Falle: Hier kann keiner weg, hier wird erkennungsdienstlich behandelt und in die Heimat zurücktransportiert.

Der Hilfsorganisation Save the Children zufolge sind allein bis Anfang September 22 000 Flüchtlinge in Italien angekommen. Tage mit 400 oder 500 waren schon beinahe normal. Allein an Syrern hat das Flüchtlingshilfswerk der UN bereits mehr als 6000 Menschen registriert. Und die Zahl der Minderjährigen, von denen drei Viertel unbegleitet reisen oder von ihren Eltern mit hohem Finanzaufwand ins „sichere“ Europa geschickt werden, nimmt zu: 4050 sind es dieses Jahr bereits.

Wer ist schuld an der Tragödie vor Lampedusa?

Die Tragödie vor Lampedusa ist nicht die erste ihrer Art. Bereits am Montag dieser Woche sind 13 Migranten ertrunken, weil ihr Schiff vor der Südküste Siziliens auf eine Sandbank gelaufen war. Zur Küste wären es in diesem Falle sogar nur 50 Meter gewesen, aber sie konnten nicht schwimmen. Eine andere Möglichkeit hatten sie nicht. Überlebende berichten, die Schleuser hätten sie „mit Stockhieben von Bord gejagt“. Die Polizei hat inzwischen sieben dieser Menschenhändler identifiziert und verhaftet, die gesamte Besatzung, fünf Syrer und zwei Ägypter. Eine ähnliche Tragödie hatte sich bereits im August im Hafen von Catania ereignet. Sechs Männer im Alter zwischen 16 und 27 Jahren starben, unter ihnen ein Ägypter, der die riskante Fahrt übers Mittelmeer seit 2004 schon zum fünften Mal unternommen hatte. Viermal hatten ihn die italienischen Behörden bereits in seine Heimat zurücktransportiert. Insgesamt sind im Mittelmeer – so die Zahlen der Organisation Fortress Europa – seit 1994 mehr als 6300 Menschen umgekommen, die nach Europa strebten.

Aber wer ist schuld? Zuerst an der Tragödie dieses Donnerstags? Wieso konnte das Schiff überhaupt vor die Klippen Lampedusas gelangen, wo doch im dicht überwachten Mittelmeer – nicht zuletzt durch die EU-Grenzschutzorganisation Frontex – Boote bereits in mehreren Dutzend Meilen Entfernung gesichtet und dann entweder in den Hafen geleitet oder geschleppt werden? Von sich aus, sagt der Innenminister Angelino Alfano, konnten sich die Flüchtlinge nicht bemerkbar machen, weil „keiner ein Handy dabei hatte“. Und dass Fischkutter ohne Hilfe zu leisten an den Schiffbrüchigen vorbeigezogen seien, wie es Überlebende berichten, kann sich Alfano nicht vorstellen: „Die Italiener haben ein großes Herz. Sie haben schon 16 000 Flüchtlinge gerettet. Sie haben dieses Boot einfach nicht gesehen.“

Und wer ist allgemein schuld an den Flüchtlingsströmen?

Und dann: wer ist generell schuld an den nicht endenden Flüchtlingsströmen? Italiens Politiker, auch die Bürgermeisterin von Lampedusa, zeigen mit dem Finger auf die EU: „Sie schaut weg und lässt uns allein.“ Demgegenüber hat Italien erst Anfang der Woche eine beispiellose Rüge aus Straßburg bezogen. Der Migrationsausschuss in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sieht das Versagen komplett auf Seiten Italiens.

Es habe „nur ungeeignete, falsche oder kontraproduktive Systeme zur Abhaltung“ von Migrantenbooten eingerichtet, und sei deshalb „zum Magneten für die Immigration“ geworden. Andauernd spreche Rom von einer „Notlage“ und legitimiere damit den „Bruch nationaler und internationaler Rechtsnormen.“ Kein Wunder, schließt der Ausschussbericht, wenn Italien bisher „kein anderes EU-Mitglied zum Teilen der Verantwortung hat überzeugen können“.