Bald sind Erst- und Zweitstimme gefragt. Hier soll es um kuriose und ernste Beobachtungen und Begleiterscheinungen im Bundestagswahlkampf gehen – als Drittstimme sozusagen. Heute geht es um die Sprache im Wahlkampf.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Der Wahlkampf hat auch eine linguistische Seite. Linguistik ist die Wissenschaft von der Sprache. „Wir kämpfen mit der Sprache“, lehrt der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Folglich dürfte es im Wahlkampf nicht ganz unerheblich sein, wie einer spricht. Das hat nun auch die virtuelle Textfabrik „Spiegel Online“ entdeckt. Dazu hat den Kollegen eine Art Kulturschock verholfen: Die Konfrontation mit einem fremden Idiom – der für hanseatische Ohren geradezu exotischen Sprechweise, die Wolfgang Schäuble und Cem Özdemir pflegen. Sie hatten sich darin jüngst bei Anne Will im Fernsehen schon frühzeitig über eine schwarz-grüne Koalition verständigt.

 

Warum Özdemir und Schäuble fleißig klingen

Viel wichtiger erschien „Spiegel Online“, wie sich die beiden Herren überhaupt verständigen. „In allen Ländern des Westens ist es riskant, mit dem Dialekt der Heimat auf der nationalen Bühne aufzutreten“, heißt es dort. Nur in Deutschland sei das nicht so. Österreich und die Schweiz werden offenbar nicht mehr zum Westen gezählt. Das schwarz-grüne Duo hat den Reporter aus dem hohen Norden derart fasziniert, weil die beiden angeblich „gleich fleißig und nach mittelständischen Tugenden, nach Kehrwoche und solider Bildung“ klingen, wenn sie den Mund aufmachen. Der Zungenschlag, dem solchermaßen gehuldigt wird, nennen sie schlicht „süddeutsch“. Da ist das Medium, das sich so viel auf seine Recherche einbildet, schlecht informiert.

Wer jemals außer München auch anderswo in Süddeutschland herumgekommen ist, dem sollte auch mit ungeschulten norddeutschen Ohren aufgefallen sein, dass „süddeutsch“ in Oberammergau, Burladingen undBonndorf im Schwarzwald recht unterschiedlich klingt. Im Süden Deutschlands sind mindestens drei Sprachen zu Hause: Ostfränkisch, Bairisch und Alemannisch. Falls aus Hamburger Sicht auch die Pfalz und das Saarland Süddeutschland zugeordnet wird, käme noch Rheinfränkisch dazu.

Alemannisch für Anfänger

Die Koalitionäre in spe, Schäuble und Özdemir, sind beide des Alemannischen mächtig, sprechen aber unterschiedliche Mundarten. Schäuble, der in Freiburg geboren ist und in der Ortenau seinen Wahlkreis hat, spricht unverkennbar einen Dialekt, den Sprachwissenschaftler Oberrheinalemannisch nennen. Wobei Freiburg an der Grenze zum Hochalemannischen liegt. Die dafür typischen Gutturale sind bei Schäuble hingegen nicht zu hören. Sonst würde ihn „Spiegel Online“ wohl für einen Schweizer halten (und nicht mehr zum Westen zählen). Was typisch für Schäubles Aussprache ist, haben die Germanisten der Universität Freiburg aufgelistet. Unter Punkt zwei heißt es über die Freiburger Umgangssprache: „Sie wandelt häufig den st-Laut in einen sch-Laut um.“ Im Falle Schäubles wäre „häufig“ durch „fast immer“ zu ersetzen.

Özdemir wiederum kommt für Bewohner des Oberrheintales aus einer völlig anderen Weltgegend. Das hat nichts mit seinen türkischen Vorfahren zu tun, sondern mit dem Ort, in dem er aufgewachsen ist (und sprechen gelernt hat): weit hinterm Schwarzwald in Bad Urach. Dort wird Schwäbisch gesprochen, und zwar eine besondere Variante: eine milde Form des Älblerischen. Und dazu hat ein schlauer Mensch bemerkt: Die 26 Buchstaben des Alphabets reichten bei weitem nicht aus, um zu dokumentieren, wie die Leute in jener Gegend daherreden.

Der Fernsehabend der beiden Alemannen hat uns jedenfalls vorgeführt, dass eine schwarz-grüne Koalition anders als der Turmbau zu Babel nicht an Verständigungsproblemen scheitern dürfte.