Bald sind Erst- und Zweitstimme gefragt. Hier soll es um kuriose und ernste Beobachtungen und Begleiterscheinungen im Bundestagswahlkampf gehen – als Drittstimme sozusagen. Heute geht es um um Selfies aus der Wahlkabine.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Wählen ist eigentlich kinderleicht: Da gibt es eine lange Liste mit vielen leeren Kringeln in zwei Spalten. Es genügt, in jeder Spalte einen dieser Kringel anzukreuzen. Fertig ist der Wahlakt.

 

Ganz so simpel es aber doch nicht für Staatsbürger, Souverän zu spielen. Sonst bedürfte es keiner Bundeswahlordnung mit 93 Paragrafen und 33 Anlagen. Einige Regeln wurden vor zwei Monaten erst eingefügt: darunter Punkt 5a in Absatz 6 des Paragrafen 56. Da geht es um ein Massenphänomen ohne das populäre Medien wie Facebook, Snapchat oder Instagram wohl gar nicht existieren würden: um das Selfie.

Das Ich im Zentrum des Wahlaktes

Selfies sind der fotografische Ausdruck eines psychischen Defizits: ein Symptom von Egomanie, die in sozialen Netzwerken endemische Verbreitung gefunden hat. Einschlägige Buchtitel dokumentieren, dass inzwischen ganze Generationen davon infiziert sind. Heerscharen von Zeitgenossen, die ihr jeweiliges Ich für die mit Abstand spannendste Person auf Erden halten, kommunizieren mit ihrem erhofften Publikum mittels Selfies: ewiggleiche Bilder mit wechselndem Hintergrund. Das ist bestenfalls öde, schlimmstenfalls eine Angelegenheit für den Psychiater. Aber was hat das Ganze mit der anstehenden Wahl zu tun?

Selfies aus der Wahlkabine sind bei uns neuerdings verboten. Das wurde mit der erwähnten Novelle ausdrücklich so geregelt. Punkt 5a in Absatz 6 des Paragrafen 56 der Bundeswahlordnung schreibt vor, dass ein Wähler abzuweisen sei, wenn dieser „für den Wahlvorstand erkennbar in der Wahlkabine fotografiert oder gefilmt hat“.

Justin Timberlake als Vorbild

Schuld an dieser neuen Regel ist Justin Timberlake. Der US-Star hat bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen sich selbst bei der Stimmabgabe geknipst. Wegen seiner Berühmtheit und der großen Fangemeinde ist nicht auszuschließen, dass er damit einen Trend gesetzt haben könnte. Mit massenhaften Selfies aus der Wahlkabine würde nach Ansicht des Bundeswahlleiters jedoch das Wahlgeheimnis untergraben und auch das Grundrecht auf freie Stimmabgabe gefährdet. Wenn die Wähler-Selfies nämlich im Netz zirkulieren, während die Wahl noch läuft, könnten andere Wahlberechtigte, die ihren Stimmzettel noch nicht ausgefüllt haben, beeinflusst werden.

Fünf Argumente gegen ein Selfie-Verbot

Es gibt berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Vorschrift. Und zwar eine ganze Reihe von Zweifeln: Erstens lässt sich das Selfie-Verbot schwer überprüfen, da die Wahl ja geheim ist, wählende Egomanen in der Wahlkabine beim Knipsen also unbeobachtet bleiben. Zweitens ist es nicht verboten, lauthals kundzutun, wen man zu wählen beabsichtigt oder wen man gewählt hat – sofern das außerhalb des Wahllokals geschieht. Das Selfie aus der Wahlkabine wäre bloß eine optische Variante dieses freiwilligen Verzichts auf das Wahlgeheimnis. Drittens hat das Bundesinnenministerium ausdrücklich betont, dass es auch nicht verboten wäre, ein heimlich geknipstes Wahlkabinen-Selfie später via Facebook & Co zu verbreiten. Strafbar ist lediglich, die Wahlentscheidung anderer zu veröffentlichen. Viertens bekommen wir doch während des Wahlkampfs ständig erzählt, wen wir wählen sollen. Wie unterscheidet sich dieser Versuch der Beeinflussung von der mittels Selfie? Der fünfte Einwand schließlich – der wichtigste von allen – ist wieder Justin Timberlake: Wenn solche Leute via Selfie den Eindruck vermitteln sollten, wählen sei cool – was gibt es dagegen einzuwenden? Im Sinne der Demokratie wären flächendeckend Flashmobs wünschenswert, die Wahllokale zum Ziel haben.

Der US-Bundesstaat Tennessee, wo Justin Timberlake zuhause ist, hat sein Wahlgesetz nach dem prominenten Selfie übrigens geändert. Selfies aus der Wahlkabine sind jetzt erlaubt – sofern nicht erkennbar ist, an welcher Stelle sich das Kreuz befindet. Das sind kluge Leute in Tennessee!