Es werden immer wieder Spritzen und Nadeln an der Jakobschule gefunden. Die Stadt hat nun auf die Vorwürfe besorgter Eltern reagiert, dass das Leonhardsviertel immer mehr verkomme und die Kinder nicht mehr sicher seien: Ein Spritzensammler dreht zweimal täglich seine Runden.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Sie liegt da wie auf dem Präsentierteller: Andreas M. (Name von der Redaktion geändert) zieht sich die Handschuhe über und versucht, die Kanüle von der Sitzplattform vor dem Züblinparkhaus zu fischen. Doch es klappt nicht, er bekommt die Nadel nicht richtig zu fassen, da die Spritze an sich nicht mehr vorhanden ist. Andreas M. schüttelt den Kopf und streift die Handschuhe ab. Vorsichtig packt er die Kanüle mit seinen bloßen Händen an dem kurzen Kunststoffteil, in dem die Nadel steckt, und wirft sie in den gelben Kunststoffbehälter, den er bei sich trägt. „Die Handschuhe sollen zwar stichfest sein, aber ich traue ihnen nicht so recht“, sagt Andreas M., „ohne die Dinger habe ich mehr Gefühl“.

 

Ganz ungefährlich ist der Job von Andreas M. also nicht – aber er schützt andere vor den Gefahren, die von den Kanülen ausgehen. Denn Andreas M. ist Spritzensammler. Seit dem 9. Juli hat er eine Vollzeitstelle beim Kontaktcafé High Noon der Caritas, die allerdings von der Stadt Stuttgart finanziert wird. Sie ist zunächst bis zum Jahresende befristet. Die Idee für die Stelle hatte Sozialbürgermeister Werner Wölfle (Grüne). Nachdem die Diskussion um den Drogenmüll, der rund um die Jakobschule in Stuttgart-Mitte immer wieder gefunden wurde, sich im Frühjahr zugespitzt hatte, besuchte Wölfle das High Noon, in dem Andreas M. damals einen Job auf geringfügiger Basis hatte. Schon damals sammelte dieser ab und zu Spritzen ein. Durch diesen Kontakt entstand die Idee, Andreas M. fest als Spritzensammler fürs Leonhardsviertel anzustellen.

Selbst auf dem Spielplatz findet er manchmal Drogenmüll

Seitdem dreht er zweimal täglich seine Runde durch das Viertel, sein Blick ist dabei immer gen Boden gerichtet. Zwei Stunden lang dauert eine Runde, sie führt ihn vom High Noon in der Lazarettstraße zum Skaterplatz, die Pfarrstraße hoch zum Spielplatz, zur Altkatholischen Kirche, die Lorenz-, Wächter- und Schickstaffel hinauf und hinunter und an die Jakobschule. „Seit kurzer Zeit ist noch die Staffel zur Mohlstraße dabei“, sagt Andreas M. Die Caritas versuche zu reagieren, wenn irgendwo plötzlich verstärkt Drogenmüll auftauche.

Der 49-Jährige zieht zum Spielplatz weiter, auf dem er an diesem Tag nichts findet. An anderen Tagen sieht das aber anders durchaus aus. „Ich kann nicht verstehen, dass man als Suchtkranker seinen Drogenmüll ausgerechnet auf einem Kinderspielplatz entsorgen muss“, sagt er. „Ich habe das nie getan – dafür mag ich Kinder zu sehr“.

Die Schuld daran, dass er drogensüchtig war, gibt er seinem Vater – und sich selbst

Denn Andreas M., der eigentlich aus Mannheim kommt, war jahrzehntelang selbst drogensüchtig. Er möge es nicht, wenn man „zu tief bohrt“, sagt er. Dann erzählt er doch, anfangs stockend, dann immer offener: Mit etwa 13 Jahren habe er angefangen zu kiffen und Alkohol zu trinken. „So, wie man halt anfängt.“ Doch er hörte nicht wieder auf, sondern „schlitterte irgendwann in die Sucht“. Die Schuld daran gibt er zum Teil sich selbst, zum Teil seinem Vater, der ihn, der Fußball spielen wollte, zum Boxtraining zwang: „Mein Vater war ein Zocker, er war gewalttätig – und als ich zwölf Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden“, sagt er. „Andererseits war ich auch einfach neugierig“, sagt Andreas M., „ich wollte alles ausprobieren.“ Um seine Sucht zu finanzieren, übernahm er immer wieder kleine Jobs. Geklaut habe er nie, aber kurzzeitig gedealt – deshalb sei er straffällig geworden.

Das ging so bis zu seinem 40. Lebensjahr. Dann habe er sich gesagt, dass „das so nicht weitergehen kann“. Andreas M. besuchte eine Gruppe für kontrolliertes Trinken und zog in eine Clean-WG nach Stuttgart. 2011/12 hat er seine Therapie beendet, seitdem nimmt er regelmäßig Methadon. Zuletzt kam nun die Vollzeitstelle. „Das tut mir so gut“, sagt Andreas M. Besonders freut er sich über das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird: Er arbeitet im High Noon auch in der Teeküche und der Verwaltung.

„Gemeinsam finden sich Wege“

Mittlerweile ist er auf seiner Runde bei der Altkatholischen Kirche angelangt. „Das ist eine neue Stelle“, sagt er. Besonders morgens findet er viel Drogenmüll, aber auch jetzt am Nachmittag zieht er mit seinem Greifstock eine Spritze aus dem Unterholz. In einem Schacht liegen hunderte davon. An die ist allerdings kein Rankommen. Ebenso wenig wie an die, die auf dem Gelände der Jakobschule liegen mögen. „Da darf ich nicht rein“, sagt Andreas M. Stattdessen durchsucht er die Beete vor der Schule. „Wenn man hier Blumen pflanzen würde, statt Gestrüpp wuchern zu lassen, dann würde sich das Problem von alleine erledigen“, sagt er.

Das ist sein Wunsch: Dass er gehört wird. Nicht nur er, sondern alle, die etwas zur Lösung des Drogenmüllproblems beisteuern können. „Alle sollten sich zusammen setzen, gemeinsam finden sich Wege“, sagt Andreas M., der weiß, dass er durch seine Arbeit das Viertel sicherer macht. Der aber auch weiß, dass er alleine die Sache nicht richten kann. Er wischt sich über die Augen, streift die Handschuhe über und geht weiter seiner Wege, den Blick immer gen Boden gerichtet. Die Weitsicht muss erst einmal warten.