Nach dem Raketenangriff auf Israel hat Premier Benjamin Netanjahu Vergeltung angekündigt. Was droht nun in dem Konflikt, der zunehmend eskaliert? Wird die israelische Luftwaffe die iranischen Atomanlagen angreifen? Droht ein offener Krieg?
Anders als US-Präsident Joe Biden hat sich der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump für eine israelische Attacke auf iranische Atomanlagen ausgesprochen. Mit Bezug auf eine Aussage Bidens zu einer möglichen Reaktion Israels auf den jüngsten iranischen Raketenangriff sagte Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung in Fayetteville im US-Bundesstaat North Carolina: "Seine Antwort hätte sein sollen: Zielt zuerst auf die Atomanlagen und macht euch über den Rest später Gedanken."
Biden hatte sich diese Woche auf eine entsprechende Frage eines Reporters gegen einen möglichen Angriff auf Irans Atomanlagen ausgesprochen. Bereits zuvor hatte er Israel dazu angehalten, die Reaktion auf den iranischen Raketenangriff gut abzuwägen.
Zweiter Raketenangriff Irans auf Israel in diesem Jahr
Die Luftstreitkräfte der Revolutionsgarden, Irans Elitestreitmacht, hatten am 2. Oktober bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr Israel direkt angegriffen. Sie feuerten rund 180 Raketen ab, die auf Luftwaffenstützpunkte und das Hauptquartier des Geheimdienstes Mossad zielten.
Nach israelischen Angaben wurde der Angriff größtenteils abgewehrt, den Regierungschef Benjamin Netanjahu dennoch nicht unbeantwortet lassen will. Fragen und Antworten zur zunehmenden Eskalation des Konflikts:
Wie könnte ein israelischer Gegenschlag aussehen?
Israel hat bereits angekündigt, entschieden auf den Raketenangriff zu reagieren. Mögliche Ziele oder den Zeitpunkt nannte das Militär oder die Regierung jedoch nicht. Angesichts des jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana, das an diesen Tagen gefeiert wird, dürfte der Gegenangriff jedoch nicht unmittelbar bevorstehen.
- Öl- und Gasindustrie: Auch Angriffe auf die Infrastruktur der iranischen Öl- und Gasindustrie könnten die Führung des rohstoffreichen Landes empfindlich treffen. Trotz strenger internationaler Sanktionen erzielt die Regierung ihre Haupteinnahmen weiterhin durch den Ölverkauf, wobei China der Hauptabnehmer ist.
- Politiker/Militärs: Experten gehen davon aus, dass auch führende Politiker oder Militärkommandeure selbst mögliche Angriffsziele sein könnten. In den vergangenen Wochen haben Israels Militär und Geheimdienst mit der Tötung von Anführern der islamistischen Hamas und der libanesischen Hisbollah-Miliz gezeigt, dass sie ihre Feinde selbst in gut geschützten Bunkern tief unter der Erde erreichen können. Solche Angriffe hätten jedoch vermutlich das größte Eskalationspotenzial.
Greift Israel die iranischen Atomanlagen an?
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat Vergeltung für den Raketenangriff Irans auf sein Land angekündigt. „Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und er wird dafür bezahlen“, sagte der Premier.
Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari erklärte: „Wir werden zu dem Zeitpunkt und an dem Ort handeln, den wir bestimmen, und zwar in Übereinstimmung mit den Anweisungen der politischen Ebene.“ Hagari betonte, die iranischen Raketenangriffe hätten keine Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Luftwaffe. Netanjahu bezeichnete Irans Angriff als gescheitert.
Laut israelischen Beamten könnten Ölförderanlagen und andere strategische Einrichtungen im Iran ins Visier genommen werden, berichtet das US-Nachrichtenportal "Axios". "Israel darf diese einmalige Gelegenheit zur Zerstörung des iranischen Atomprogramms nicht verpassen", schreibt der frühere israelische Ministerpräsident Naftali Bennett auf der Plattform X. "Wenn wir es jetzt nicht tun, sehe ich nicht, dass es jemals passieren wird."
Die „New York Times“ berichtete unter Berufung auf US-Beamte, in einem möglichen Szenario könnte Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen. Insbesondere die Anreicherungsanlagen in Natanz, dem Herzstück des iranischen Programms, könnten im Visier stehen. Die Anlage tief unter einem Gebirge im Zentraliran gilt schon lange als mögliches Ziel im Konflikt zwischen der Islamischen Republik und Israel. Der Westen hat Teheran immer wieder vorgeworfen, nach Atomwaffen zu streben.
Seit wann hat der Iran atomare Ambitionen?
Das umstrittene iranische Nuklearprogramm reicht in seinen Anfängen bis in die 1970er Jahre zurück. 1974 begann die Siemens-Tochter Kraftwerk Union (KWU) mit dem Bau eines Kernkraftwerks in der Hafenstadt Buschir am Persischen Golf. Die in den 1980er Jahren von Deutschland aufgekündigte Zusammenarbeit im Kraftwerksbau führte Iran mit Russland weiter.
Ist Teheran auf dem Weg zur Nuklearmacht?
Bereits im April hatte Rafael Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, erklärt, dass der Iran mehr hochangereichertes Uran habe als er braucht, wenn er eine oder vielleicht sogar mehrere Atombombe bauen will. „Kein Land, das noch keine Atombombe hat, reichert Uran auf diesem Niveau an: 60 Prozent.“
Für einen Atomreaktor, zur Stromerzeugung reichen zweieinhalb bis vier Prozent. Für eine Atombombe braucht es 90 Prozent, aber 60 Prozent, 90 Prozent, „technisch gesprochen ist das fast identisch“, so Grossi weiter.
Den von den USA erhobenen Vorwurf, an einem Atomwaffenprogramm zu arbeiten, hat Teheran stets zurückgewiesen. Ein Teil der in Iran betriebenen Nuklearanlagen ließen nach Ansicht von Experten Zweifel daran zu, dass sie allein friedlichen Zwecken dienen sollen.
Was sieht die iranische Nukleardoktrin vor?
Der Iran hatte sich 2015 im Wiener Atomabkommen verpflichtet, sein Atomprogramm stark einzuschränken. Im Mai 2018 kündigte der damalige US-Präsident Donald Trump den Pakt, der den Bau iranischer Atombomben verhindern sollte, auf. Er verschärfte außerdem die Sanktionen. Im Gegenzug baute Teheran die Anreicherung von Uran stark aus und schränkte Kontrollen der Atomenergiebehörde IAEA ein.
Der neugewählte iranische Präsident Massud Peseschkian hat beteuert, sein Land baue keine Atombomben. „Ich möchte betonen, dass die Verteidigungsdoktrin des Irans keine Atomwaffen vorsieht“, schrieb der Präsident bei der Vorstellung seines außenpolitischen Kurses in der Zeitung „Teheran Times“. Die USA sollten sich mit dieser Realität abfinden und auf weitere Unterstellungen verzichten.
Hat der Iran schon bald genug angereichertes Uran?
Anfang 2023 meldete die UN-Atomaufsicht, dass sich die Konfiguration von Zentrifugen in den iranischen Atomanlagen verändert habe. Kurz darauf entdeckten Inspekteure in Iran Spuren von auf 84 Prozent angereichertem Uran. 90 Prozent gilt für die Herstellung einer Atomwaffe als Schwelle. Der Fortschritt in der Urananreicherung und die mögliche Produktion von spaltbarem Material sind jedoch nur die eine Seite der Medaille. Experten weisen darauf hin, dass der Iran weitere Schritte unternehmen müsste, um eine einsatzfähige Atomwaffe zu haben.
Wo befinden sich die iranischen Atomanlagen?
Teheran/Ramsar/Bonab/Buschir: In Betrieb sind Forschungsreaktoren in Teheran, Ramsar und Bonab sowie ein 1000-Megawatt- Leichtwasserreaktor in Buschir.
Arak: In der Nähe von Arak, 250 Kilometer südwestlich von Teheran, wird Schweres Wasser zur Moderation von Reaktoren hergestellt. Mit dem Bau der Anlage wurde 1996 begonnen. Ihre Existenz wurde im Dezember 2002 durch Satellitenaufnahmen bestätigt. Außerdem ist hier ein Schwerwasserreaktor in Bau. Das in Arak hergestellte schwere Wasser könnte nach Meinung von Experten in diesem noch zu errichtenden Schwerwasserreaktor verwendet werden. Schwerwasserreaktoren können in Verbindung mit Wiederaufbereitungsanlagen zur Herstellung von Plutonium genutzt werden.
Fordo/Qom: Der Atomanlage Fordo bei Qom wird wegen ihrer auf maximal 3000 Zentrifugen begrenzten Kapazität eine ausschließlich militärische Zweckbestimmung (Hochanreicherung) unterstellt. Die Anlage in Fordo wurde Ende 2011/Anfang 2012 in Betrieb genommen.
Uranbergbau: Der Iran verfügt über eigene Uranvorkommen, zum Beispiel bei Yazd, Anarak und in Gchine. Derzeit wird Uranerz in einem Bergwerk bei Saghand abgebaut.
Isfahan: Die Universitätsstadt Isfahan gilt als Zentrum der iranischen Kernforschung; dort befindet sich eine Anlage zur Produktion von Brennstäben. In den Anlagen von Isfahan kann Uran auch in das gasförmige Uranhexafluorid umgewandelt werden (Urankonversion) – ein notwendiger Ausgangsstoff für angereichertes Uran.
Welche Bedeutung hat die Atomanlage in Natanz für den Iran?
Darauf, dass Iran über ein weit fortgeschrittenes Programm zur Herstellung waffenfähigen Nuklearmaterials verfügen könnte, deuten Fachleuten zufolge vor allem die Anlagen in Arak, Natanz und Buschir hin. Als Wichtigste gilt die Urananreicherungsanlage in Natanz, in deren Gaszentrifugen Uran angeblich so hoch angereichert werden kann, dass es waffenfähig wird.
Die durch Flugabwehrsysteme geschützte unterirdische Anlage liegt rund 230 Kilometer südsüdöstlich von Teheran in der trockenen Landesmitte. Nach Angaben der IAEO hat sich Iran in den 1980er Jahren aus Pakistan Anleitungen zum Bau von Zentrifugen besorgt, mit denen das Uran bis zur Waffenfähigkeit angereichert werden kann. Daran beteiligt war u. a. der Ingenieur Abdul Kadir Khan, der für die Entwicklung des pakistanischen Atomwaffenprogramms und deren Weitergabe an andere Länder verantwortlich ist. Die Anlage kann nach Informationen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) bis zu 50.000 Gaszentrifugen aufnehmen.
Wie lange braucht der Iran noch zum Bau einer Atombombe?
Nach Einschätzung von US-Außenminister Antony Blinken steht der Iran kurz davor, „die Fähigkeit zur Herstellung von spaltbarem Material für eine Atomwaffe zu erlangen“. Weil das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt worden sei, sei der Iran „wahrscheinlich nur noch eine oder zwei Wochen davon entfernt“, hatte Blinken am 20. Juli 2024 bei der Sicherheitskonferenz Aspen Security Forum im Bundesstaat Colorado erklärt. Zwar habe der Iran noch keine Atomwaffe hergestellt, aber die USA beobachteten die Entwicklungen dort sehr genau.
Info: Wie sich Israel vor Angriffen schützt
Der Iran feuerte beim jüngsten Angriff auf Israel nach Angaben der israelischen Armee rund 180 Geschosse ab. Die meisten konnten von Israel und einer von den USA geführten Verteidigungskoalition abgefangen werden. Zudem suchte die Bevölkerung Schutz in Bunkern.
Iron Dome
Der von Israel entwickelte Iron Dome (Eisenkuppel) ist darauf spezialisiert, Raketen und Geschosse über kurze Distanz abzufangen. Eine Batterie kann ein kreisrundes Gebiet mit einem Radius von etwa sieben Kilometern schützen. Die Fläche entspricht etwa einer Stadt wie Freiburg. Bau, Entwicklung und Instandhaltung haben die USA bisher mit mehr als drei Milliarden Dollar unterstützt. Der Iron Dome gilt als Symbol für die Rolle der USA als Schutzmacht Israels. Seit dem Start 2011 kam das System nach Angaben Israels mehrere Tausend Mal zum Einsatz. Dem Jahresbericht "Military Balance 2024" des Internationalen Instituts für strategische Studien zufolge hat der Iron Dome eine Erfolgsquote von mehr als 90 Prozent.
David's Sling
Einen Schritt weiter bei der Abwehr Israels geht die ebenfalls mit den USA entwickelte David's Sling (Schleuder Davids). Zwei Batterien reichen, um die gesamte Fläche von Israel abzudecken. Seit Frühjahr 2017 einsatzbereit, dient das auch als Magic Wand (Zauberstab) bekannte System dazu, im Vergleich zum Iron Dome größere ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern unschädlich zu machen. Solche Waffen haben nach US-Angaben der Iran, Syrien und die Hisbollah im Libanon. Die USA steckten nach eigenen Angaben rund 2,4 Milliarden Dollar in die Entwicklung.
Luftschutzbunker
Wenn Raketenalarm ertönt und ein Luftangriff droht, sind es die Menschen in Israel seit Jahrzehnten gewohnt, einen Luftschutzkeller aufzusuchen. Rund eine Million derartiger Bunker soll es landesweit geben. Sehr viele Wohnhäuser verfügen über ihre eigenen Schutzräume. Sie befinden sich auch unter Einkaufszentren, Bahnhöfen und anderen öffentlichen Gebäuden. Ein Zivilschutzgesetz aus dem Jahr 1951 - drei Jahre nach der Staatsgründung - schreibt vor, dass alle Wohn- und Geschäftsgebäude Zugang zu einem Schutzraum haben müssen. Ein solcher kann, mit schweren Stahltüren gesichert, auch in eine einzelne Wohnung integriert sein.