Ein 16-jähriger Junge ist nahe Tel Aviv verschwunden. Hat der Polizist Avraham Avraham zu spät mit der Suche begonnen? Dieser israelische Krimi schildert einen Ermittler in der Krise.

Stuttgart - Er hat ein ganz kleines Büro mit völlig kahlen Wänden. Hinein passen ein Schreibtisch, ein Stuhl dahinter, ein Stuhl davor. Aber dieses Büro ist keine Erniedrigung, keine Zelle für den Polizisten Avraham Avraham aus Cholon, einem Ort in der Nähe von Tel Aviv. Das Büro passt zu diesem Ermittler, dem von den Eltern der Nachname noch einmal als Vornahme drangehängt wurde, als brauche es für sein Leben nicht die volle Ausstattung an Schwung und Originalität.

 

Sauertopf mit Skrupeln

Der Held von Dror Mishanis „Vermisst“ wirkt dauerbedrückt, ein wenig sauertöpfisch, fast möchte man sagen, wie eine Transuse, deren energischster Charakteranteil die Generierung von Skrupeln und Selbstvorwürfen angesichts der eigenen Tranigkeit zu sein scheint. Wäre da nicht der Satz, der da mal fast schon in der Mitte des Romans fällt, typisch in der Charakterisierung von Krimihelden, aber hier fast überlesbar eingestreut, das Lob einer Vorgesetzten, er sei der beste ihrer Ermittler.

Avraham Avraham, lernen wir, lebe nur auf, wenn er einen Fall zu bearbeiten habe, sein Privatleben scheint also nur Wartezeit auf die Fortsetzung der Dienstpflichten zu sein. Aber sein erster Auftritt zeigt ihn eben gleich bei einem Fall, in den er nicht richtig hineinkommt: Mishani, Lektor und Literaturprofessor, geht das Risiko ein, dass uns Avraham zuwider wird, was die Sache natürlich sehr spannend macht.

Spurlos verschwunden

Eines Abends kommt eine Mutter aufs Revier, die ihren 16-jährigen Sohn Ofer, der von der Schule nicht nach Hause gekommen ist als vermisst melden möchte. Avraham bringt sie davon ab, jetzt schon einen Anziege aufzugeben. Schließlich tauchen Teenager in der Regel bald wieder auf, haben nur bei einem Kumpel die Zeit vergessen oder schämen sich für etwas, das sie ausgefressen haben.

Am nächsten Tag aber ist Ofer immer noch abgängig, und eine Ermittlung setzt ein, die nirgendwohin führt. Es gibt zunächst keine Spuren, keine Verdachtsmomente, keine Zeugen. Je weniger Avraham tun kann, desto mieser kommt er sich vor, nicht früher eine Akte eröffnet zu haben – auch wenn das gar nichts gebracht hätte.

Völlige Hilflosigkeit

Mishani erzählt uns etwas vom Deprimierenden der Polizeiarbeit, von der Erfahrung völliger Hilflosigkeit in Momenten, in denen andere dringend Hilfe von einem erwarten. Mit Avrahams ratlosem Herumgestochere in den wenigen Aussagen anderer über Ofer kontrastiert einerseits der Aktionismus eines schneidigen jungen Kollegen, der wenig Interesse an den menschlichen Umständen hat, aber jeden Fall als Zündstufe der eigenen Karriere sieht. Andererseits ist da ein Nachbar und Nachhilfelehrer von Ofer, Seev Avni, von dem man eher Avrahams Passivität erwarten würde, der sich aber in den Fokus der Ermittlers zu winden versucht.

Schnell wird uns dieser Kerl verdächtig. Auch er scheint ein zudem noch prätentiöser Langweiler zu sein, der erst im Ausnahmezustand richtig zu leben beginnt. Hat Avni diesen Ausnahmezustand darum geschaffen?

Die Tristesse, die Trostlosigkeit des Normallebens wird im Sonderfall der Kriminalermittlung nicht aufgehoben, sondern nur scharf gespiegelt. Dieses Pessimismus erinnert ein wenig an die Bücher Henning Mankells, aber Mishani ist frei von den Manierismen, Übertreibungen, plumpen Schockeffekten und der Larmoyanz des Schweden.

Maigret ohne Verwurzelung

Um der ehrenwerten Gilde der Mankell-Verächter also nicht die Lust auf diesen lesenswerten Krimi zu nehmen, sei ein anderer Vergleich gewählt: Avraham Avraham erinnert ein wenig an den frühen Maigret, nur dass ihm dessen Sozialkompetenz fehlt, dessen Verwurzelung und Autorität. Übrig bleibt einer, der mitleidet mit den Menschen um sich her, der weniger Schuld zuweisen als erst einmal verstehen will, was warum geschehen ist. Avraham Avraham ist auch keiner, der die Lösung eines Falls lange als Glück empfinden kann. Glück wäre, wenn es keine Fälle gäbe.

Dror Mishani: „Vermisst“. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013. 351 Seiten, 17,90 Euro. Auch als E-Book, 13,99 Euro.