Ob Klapprad oder Rennrad – Velos mit unterstützendem Elektromotor erobern die Städte. Auf der Fachmesse Eurobike in Friedrichshafen wird deutlich, dass die Entwicklung gerade erst begonnen hat.

Friedrichshafen - Nennen wir ihn Martin Wade. Für Wade ist Rad fahren etwas sehr Sportliches. Der Mann ist Radelpurist, will den Puls im Hals spüren und am Wochenende seinen Nachbarn am Berg abhängen. Das macht ihn glücklich. Den Gedanken, es sich mit einem Elektromotor ein bisschen leichter zu machen, findet er unerträglich und zutiefst unmännlich – früher zumindest, heute aber nur noch, wenn er sportlich unterwegs ist. Für alles andere hat Wade mittlerweile ein Rad mit eingebautem Rückenwind im Keller, zum Beispiel zum transpirationsfreien Rollen ins Büro oder einfach mal so zum Spaß.

 

Keine Frage, Fahrräder mit einem elektrischen Zusatzantrieb sind die Wachstumsbranche bei den Zweirädern. Auf der Eurobike in Friedrichshafen, der weltweit größten Fahrradmesse, konnte man vor vier Jahren die Anbieter von E-Bikes noch unter einer Stunde abklappern. Jetzt geht der Markt durch die Decke. Ein Beispiel: Die Firma Bosch stellte erst 2010 am Bodensee ihren ersten Antrieb vor, heute beliefert die Bosch E-Bike Systems bereits 40 Radhersteller. Ganz aktuell bietet auch AEG einen E-Antrieb an. Große Namen in einer Branche, in der bisher eher kleine Unternehmen unterwegs waren. Nach Zahlen des Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) ist der Markt in Deutschland 2011 um 50 Prozent gewachsen, für 2012 rechnet man mit 400.000 verkauften E-Bikes, das wäre noch einmal eine Steigerung um 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Mutti fährt im Tour-de-France-Tempo durch die Stadt

Und es gibt mittlerweile keine Spielart des Zweirads mehr, für die es keinen Zusatzantrieb gibt: Alltagsräder für die Stadt, Lastesel zum Beispiel für die Post, Klappräder, die aussehen wie aus einem Science-Fiction-Film, Mountain- und Trekkingbikes oder Designstudien, die Retrolook mit ausgefeilter Technik kombinieren und die als neue Statussymbole für den urbanen Menschen hochgepeppt werden sollen. Sogar für das klassische Rennrad gibt es E-Motoren, wobei da der Trend zu beobachten ist, den Tretlagerantrieb und die Batterie versteckt in den Rohren des Rahmens zu verbauen. Für Puristen wie Martin Wade eine Horrorvorstellung, wenn er nicht mehr beurteilen kann, ob der Nachbar en nature oder mit unsichtbaren Zusatzwatt unterwegs ist. Das E-Rennrad wird trotzdem kommen, auch wenn sich Wade noch damit tröstet, dass der einzige marktreife Antrieb dieser Spielart im Moment noch Geräusche wie eine schlecht geölte Nähmaschine von sich gibt. Aber bei dem Tempo der gegenwärtigen Entwicklung wird auch das bald vorbei sein. Gerüchtehalber wurde dieses Technodoping auch schon im Profiradsport getestet.

Die Entwicklung bei den normalen Rädern geht dagegen klar zu den Pedelecs. 95 Prozent der E-Bikes sind sogenannte Pedal Electric Cycles, das heißt Fahrräder, die die Muskelarbeit des Fahrers mit einem Motor unterstützen. Reine E-Bikes, die ganz ohne Pedalarbeit auskommen, sind dagegen auf dem Rückzug. E-Bikes, die mehr als 25 Kilometer schnell sind, brauchen zudem ein Versicherungsschild wie ein Mofa und dürfen innerorts nicht auf Radwegen gefahren werden. Das gilt allerdings auch für Pedelecs, sofern sie nicht bei 25 Stundenkilometern abriegeln.

Viele Hersteller bieten mittlerweile eine zweite Pedelec-Variante bis 45 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit an. Nicht nur für Herrn Wade ist es eine grenzwertige Vorstellung, dass künftig Mütter mit dem Kleinen im Kindersitz und dem Einkauf im Korb mit Tour-de-France-Tempo durch die Städte jagen. Aber es ist ein Szenario, das durchaus wahr werden kann, wie Heiko Müller findet, einer der Inhaber des Radherstellers Riese & Müller. „Strecken, die vorher für das Auto eigentlich zu kurz und für das Rad eigentlich zu lang waren, können nun problemlos mit dem Rad bewältigt werden“, sagt der Mann, der sein Sortiment an gefederten Komforträdern künftig nahezu komplett mit Motoren anbietet.

Pedelecs schaffen bis zu 120 Kilometer mit einer Akkuladung

Der Aufschwung der E-Bikes ist in technischer Hinsicht noch etwas unübersichtlich. Im Moment gibt es Antriebskonzepte für das Vorder- oder für das Hinterrad, dazu den Mittelmotor, der direkt auf das Tretlager wirkt. Diesem Konzept scheint die Zukunft zu gehören, da es die Leistung des Fahrers am besten berücksichtigen kann. Einfach gesprochen: je stärker der Fahrer tritt, desto weniger arbeitet der Motor – und umgekehrt. So bringen es moderne Pedelecs heute – je nach angeforderter Motorunterstützung – mit einer Akkuladung auf 50 bis 120 Kilometer.

Aber auch in der Batterietechnik steckt noch großes Entwicklungspotenzial. Die neuen Akkus schaffen etwa 400 Watt mit dem Gewicht und der Größe ihrer Vorgängermodelle, die es nur auf etwa 300 Watt brachten. Generell stehen Themen wie Gewicht, Effizienz, Leistung und Reichweite in ihrer Kombination im Mittelpunkt, wie man bei Bosch betont. Auch an der Zuverlässigkeit der Akkus wird gearbeitet.

Noch haben die Kraftzellen Probleme, wenn sie zum Beispiel im Winter wochenlang außer Betrieb waren. Ein weiteres Entwicklungsfeld sind Hybridantriebe, die die Energie beim Bergabfahren oder Bremsen zum Laden der Batterie nutzen. Es gibt bereits einige Varianten, manche haben in der Bedienungskonsole am Lenker eine sogenannte „Rekup“-Funktion; die Abkürzung steht für Rekuperation, Rückgewinnung von Energie. Das bedeutet, der Fahrer kann auf der Ebene oder bergab gegen die Motorbremse antreten und so den Akku wieder laden. Das ist dann wieder etwas für Herrn Wade, da sich das Fahren dann so anfühlt, als zöge man einen Bremsschirm hinter sich her. Bergab funktionieren die Hybride schon gut und mit zunehmend besseren Batterien auch immer effektiver.

Das Fahrrad misst den Puls des Radlers

Bei der Kraftübertragung gibt es erste Systeme mit Zahnriemen oder Kardanwellen statt den üblichen Ketten. Beim Designerbike Mando Footloose sind die Pedale nur noch zum Laden der Batterie da, das Hinterrad wird ohne Kette direkt vom Motor angetrieben. Und die Zukunft klopft schon an: Mit Hochdruck wird an einer computergesteuerten Harmonisierung der Komponenten Bedienung am Lenker, Batterie und Motor gearbeitet. Das Ziel heißt Individualisierung, der Antrieb soll künftig den Fahrer „kennen“ und sich entsprechend verhalten.

Als ersten Schritt auf diesem Weg präsentierte Kalkhoff auf der Eurobike eine Weltneuheit. Von 2013 an bietet der Hersteller ein Pedelec an, bei dem die Motorleistung durch die Pulsfrequenz des Fahrers gesteuert wird. Steigt der Herzschlag des Mannes im Sattel über einen eingestellten individuellen Schwellenwert, unterstützt der Motor stärker – und umgekehrt. Das könnte auch Martin Wade gefallen.