Eckhart Werber über Pedelecs & Co Fahrrad-Experte sieht Boom kritisch

Eckhart Werber fährt ein Tommasini mit gekröpftem Lenker und Kettenschutz aus dunklem Holz. Foto: Rémy Vroonen/Rémy Vroonen

Seit 70 Jahren beschäftigt sich Eckhart Werber beruflich mit Fahrrädern. Den Boom, den die Branche nun erlebt, sieht er mit gemischten Gefühlen. Ein Besuch in seiner Werkstatt.

Eckhart Werber steht in seinem Atelier, vor der Werkbank ist ein blank polierter Faggin-Rahmen eingespannt, die italienische Marke, auf der Gino Bartali, Enzo Moser und Eddy Merckx ihre Rennen gewannen, und streicht mit der Hand über den Stahl. Ein Lächeln huscht über das Gesicht.

 

Es ist ein Damenrahmen. Werber hat das Sitzrohr kürzen lassen, damit er seiner Frau Corine passt. Das Fahrrad wird ein Geschenk. Es soll nicht schnell fahren, es soll Menschen durch Schönheit in seinen Bann ziehen. Ins Sitzrohr ist ein Herz graviert.

Eckhart Werber hat sein Leben dem Fahrrad gewidmet. Der 82-Jährige führte 45 Jahre lang einen Radladen in Bad Krozingen, 15 Kilometer südlichwestlich von Freiburg. Wobei Werber nie Radladen sagen würde, Fahrrad-Fachgeschäft vielmehr. „Mein Anspruch war immer, dem Fahrrad eine andere Bedeutung zu verleihen“, sagt Werber. Nun ist das Fahrrad ein Statussymbol geworden – aber Werber kann sich nicht wirklich darüber freuen.

Preisgekrönte Kunstwerke

Er wendet den Blick vom Faggin-Rahmen ab, dreht sich um und kramt eine Nabe aus einer Schublade. Wie einen Edelstein hält er sie in den Händen. Ein Stupser, und die Nabe dreht sich, als wollte sie nie wieder aufhören. „So etwas wird heutzutage gar nicht mehr hergestellt“, sagt Werber. Er klingt enttäuscht. Gebaut wurde die Nabe von Pelissier, einem französischen Unternehmen, das 1992 in einer Fusion untergegangen ist.

Werbers Räder haben Preise gewonnen. Sie sind mehr Kunstwerk als Fortbewegungsmittel, sie sind Kompositionen aus Hunderten von Details. Wobei Werber da gleich widersprechen würde: „Ich bin kein Künstler. Ich bin Handwerker.“

Man kann Stunden mit diesem Mann verbringen, und trotzdem fällt es schwer, ihn zu beschreiben. Er lässt sich nicht in Kategorien zwängen. Wenn man denkt, dass er nichts von E-Bikes hält, weil keines seiner aufgebauten Räder einen Motor hat, dann sagt er: „Ich habe schon in den 90er Jahren E-Bikes verkauft.“ Eines seiner Lieblingswörter lautet: „Vorsicht!“ Es warnt vor eiligen Schlüssen. Oft fangen seine Sätze so an: „Nur dass wir uns richtig verstehen.“ Haben wir uns etwa falsch verstanden?

1954 lernt er zum Zweiradmechaniker

Vielleicht hilft es, in die Vergangenheit zu schauen, um Eckhart Werber zu verstehen. Er wird 1940 in Freiburg geboren. Der Vater ist im Krieg, die Mutter hat mit seinen Geschwistern viel zu tun und so wächst Werber ein paar Straßen weiter auf, bei der Großmutter in Bad Krozingen. Gemeinsam mit einer Tante und einem Onkel führt sie ein Fahrradgeschäft.

Eigentlich möchte Werber Grafiker werden. Er hat sogar schon eine Ausbildungsstelle beim Herder-Verlag in Freiburg gefunden, doch der Vater, ein Schlosser, ist dagegen. Einen zweiten Künstler, Werbers Onkel Erwin ist Maler, brauche man nicht in der Familie. Also beginnt Werber im Jahr 1954 eine Ausbildung zum Zweiradmechaniker. „Damals hat jeder auf etwas Motorisiertes gespart“, sagt Werber. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, der VW Käfer wird zum Symbol für Aufschwung und Fortschritt. Nur wer sich nicht einmal ein Mofa leisten kann, muss Rad fahren. Den Geschäften auf dem Land haftete damals das Radflicker-Image an, sagt Werber. Er erinnert sich an düstere Läden, in denen Laufräder von der Decke hingen. In der Werkstatt stapelten sich Ersatzteile, einige wurden zum zweiten Mal an ein Fahrrad montiert.

Werber will es anders machen und setzt auf elegante Rennräder. Seit Rudi Altig 1964 im Gelben Trikot nach Freiburg fährt, ist er vom Radsport begeistert. Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Tour de France durch Deutschland führt.

Französische Mofas und italienische Rennräder

1967 übernimmt Werber das Geschäft von der Tante. Doch er merkt schnell, dass er von Fahrrädern allein nicht leben kann. Er bewirbt sich um eine Vélosolex-Lizenz und bekommt den Zuschlag. Das Geschäft mit den französischen Mofas wird ein Erfolg. Später verkauft Werber auch Vespas.

Bei den Rennrädern orientiert sich Werber an Italien: Gianni Motta und Vicini stehen im Schaufenster. Giro-Sieger Motta ist sogar dabei, als Werber 1985 einen Anbau seines Geschäfts einweiht. Außerdem verkauft Werber Räder von Koga, Kotter’s, Centurion, Simplon, Giant und Scott.

Als er 1993 bei einer Fabrikbesichtigung in Taiwan die ersten E-Bikes entdeckt, entschließt er sich, einige zu bestellen. Doch der Verkauf läuft schleppend. „Die Leute waren beleidigt, als ich ihnen ein Fahrrad mit Elektromotor angeboten habe“, sagt Werber. Er lernt: Nicht nur das Produkt, auch der Zeitpunkt muss stimmen.

Unikate voller liebevoller Details

Als Werber sein Geschäft 2012 übergibt, hat er endlich Zeit, sich den eigenen Fahrradkompositionen zu widmen. Es sind Unikate voller liebevoller Details. Im Sommer stellt er sie in den Garten und freut sich, dass der Chrom in der Sonne blitzt.

Da wäre zum Beispiel das Bella-Ciao, ein Damenrad der gleichnamigen Manufaktur aus Berlin, das Werber für seine Nichte aufgebaut hat. Sie ist Designerin in Mailand und „könnte es bald mal abholen“. Werber hat eine Hinterradbremse an den Rahmen schweißen lassen, damit der Bremszug gradliniger verläuft und mehr Kraft überträgt. Er hat den Lenker mit gefederten Nussholzgriffen ausgestattet, polierte Schutzbleche mit Lederspritzschutz angebracht und Holzpedale angeschraubt. „Darauf kann man auch mit Pumps fahren.“

Bloß: Wofür der ganze Aufwand? Fahrerin und Fahrrad sollen elegant durch die Straßen gleiten, die Blicke auf sich ziehen, einen einzigartigen Eindruck machen. Bella Figura eben, was in Deutschland oft als schnöde Angeberei abgetan wird, für Werber aber Geschmack, Stil und Respekt bedeuten. Für Handwerk, Fahrrad und Mensch.

Schiebermütze, Knickerbocker und Hosenträger

Mit Bella-Ciao hat Werber 2019 am Concours Vélo in Basel teilgenommen, einem Schönheitswettbewerb für Fahrräder. In einer alten Fabrikhalle präsentierten Radliebhaber ihre Stücke. Werber machte an diesem Tag ebenfalls Bella Figura, trug Schiebermütze, Knickerbocker und Hosenträger, um den Hals ein blaues Tuch. Den ganzen Tag über wurden Räder begutachtet und Details besprochen. „Es ist immer schön, mit der Szene in Kontakt zu kommen“, sagt er.

Die Blicke der Jury zog an diesem Tag aber nicht das Bella-Ciao, sondern ein anderes Rad auf sich. Mit Daccordi 50 anni gewann Werber den ersten Preis in der Kategorie Montage. Gibt es eine schönere Auszeichnung für einen Mechaniker? Das Daccordi hängt heute noch in dem Fahrradfachgeschäft, das weiterhin Werbers Namen trägt, aber längst vom Nachfolger geführt wird. Es wurde zum 50. Geburtstag der Traditionsmarke aus der Toskana produziert – und Werber hat es neu aufgebaut.

Schon der Rahmen ist ein Kunstwerk: Muffen, Chrom, Gravuren, meisterhaft komponiert. Die Schaltung stammt von Campagnolo, Typ Rallye, wie die meisten Schaltungen, die Werber an seine Räder baut. Als er den Laden übergibt, sind noch viele alte Campagnolo-Teile im Bestand. „Das hat meine Räder überhaupt erst möglich gemacht“, sagt Werber. Er achtet darauf, dass möglichst viele Bestandteile seiner Fahrräder in Europa produziert werden. Ab und zu kommen ehemalige Rennfahrer zu ihm und bringen Campa-Teile vorbei. Sie wissen, dass er sie gebrauchen kann. Die Felgen des Daccordi sind aus Holz, ihre dunkle Maserung passt zu Lenkerband und Satteltasche aus Leder. Werber hat noch einige Jahre mit Holzfelgen gearbeitet, ehe sie in den 1960er Jahren vom Markt gedrängt wurden. „Ich möchte, dass diese Tradition nicht ausstirbt“, sagt er. In Italien gibt es noch Manufakturen, die so etwas herstellen.

Auf der Saarperle durch die Toskana

Man könnte sich lange in ein Rad von Eckhart Werber vertiefen, in seine Details, die sich zu einem gut durchdachten Ganzen zusammenfügen. Doch ehe das passiert, holt Werber schon das nächste Rad aus der Garage und präsentiert es dem Besucher.

Da ist der japanische Sakae-Mountainbike-Rahmen, den Werber zu einem Stadtrad aufgebaut hat. Da ist die Saarperle, ein Randonneur, von dem Werber den originalen Fahrradschein ergattert hat, ein Dokument, ausgestellt von der Regierung des Saarlands im Jahr 1953, als das heutige Bundesland dem französischen Wirtschaftsraum angehörte und politisch autonom war. Es gibt ein Foto, auf dem Eckhart Werber auf der Saarperle über den weißen Schotter der Toskana rollt, den rechten Arm angewinkelt, als wolle er gleich winken, die Beine treten kraftvoll in die Pedale. Um den Hals baumelt eine Fliegerbrille, auf dem Kopf die Baskenmütze. Das Bild wurde bei der Eroica aufgenommen, der Radfahrt für die Liebhaber historischer Rennräder. Für Werber waren nicht Steigungen das Problem, sondern die Abfahrten, in denen die alte Randonneurbremse das Rad kaum stoppte.

Zehn Räder hat Werber nach seinen Ideen aufgebaut, vielleicht sind es auch 15, so genau weiß er es nicht. Aber warum schaut er nun so mürrisch auf die Entwicklung der Radbranche? „Ich bin gottfroh, dass ich mit dem operativen Geschäfts nichts mehr zu tun habe.“ Zunächst sei da die Sorge, ob sich die Kunden die teuren E-Bikes auch wirklich leisten können. „Was passiert denn, wenn die Akkus ausgetauscht werden müssen? Das kostet!“, sagt Werber. Doch es steckt etwas anderes dahinter. Es ist der Abschied von der geliebten Mechanik, der Werber Schmerzen bereitet. Motorsteuerung, Sensorik, Batterie, all das lässt sich nicht so leicht reparieren, wie Werbers mechanische Räder. „Nachhaltigkeit und Funktionstüchtigkeit der Mechanik ergeben Sinn und Schönheit“, sagt er. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, seiner Frau ein E-Bike zu schenken.

Bonsaibäume im Garten, Buddha-Büste auf dem Sims

In seinen Berufsjahren hat Werber gesehen, wie die Hersteller die Produktion von Europa nach Asien verlegten. Er hat gesehen, wie die Holzfelgen verschwanden und die Carbonrahmen kamen. Er hat gesehen, wie es für Qualitätsproduzenten immer schwieriger wurde, sich gegen Massenware zu behaupten. Aber Vorsicht: Werber würde „die Asiaten“ nie dafür verurteilen. Auf Reisen nach Taiwan und Japan hat er eine Kultur kennengelernt, die ihn fasziniert. Anders sind die Bonsaibäume im Garten nicht zu erklären, die Buddha-Büste auf dem Sims des Fahrradladens, oder die schlichte, asiatisch angehauchte Kleidung, die Werber trägt, das blaue Hemd mit dem kleinen Stehkragen.

Eckhart Werber hat ein neues Rad aus der Garage geholt. Ein dunkelblaues Tommasini mit gekröpftem Lenker und Kettenschutz aus dunklem Holz. Zwei schnelle, kleine Schritte, dann springt Werber auf den Sattel und schießt aus der Einfahrt und saust eine Straße hinab. Der 82-Jährige fährt Rad wie einer, der grade erwachsen geworden ist.

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