Die klassische Eckkneipe stirbt aus. Wir besuchen sie: heute das Westend.

S-West - Die Schönheit der Eckkneipe ist keine oberflächliche. Sie liegt unter einer Patina verborgen, die die meisten abschreckt. Doch schon der reichlich zitierte Mottotapeten-Autor Antoine de Saint-Exupéry konstatierte allwissend, man sehe nur mit dem Herzen gut. Und wer die Gaststätte Westend mal mit dem Herzen betrachtet, der erkennt viel Schönes.

 

Wie bei jeder anständigen Eckkneipe hat das natürlich mit der guten Seele des Hauses zu tun. Die hört hier an der Ecke Bebel-/Seyfferstraße auf den Namen Slavenka Jäger. Und ist eine sagenhafte Patronin wie aus dem Bilderbuch. Sie kennt alle ihre Stammgäste mit Namen, meist sogar mitsamt ihrer Getränkevorlieben. Und wenn jemand Zigaretten möchte, dann steht sie auf, stapft in den kleinen Vorraum am Eingang, zieht die gewünschte Marke, stapft zurück, öffnet sie und drapiert sie vor dem Gast. So etwas gibt es ja sonst nur in mondänen Bars, in denen das Bier sechs Euro kostet. Hier bei Slavenka kostet das große Bier 2,90 Euro. Einen Schnaps nach Wahl gibt es eh immer aufs Haus. Klarer für die Herren, Erdbeerlimes für die Damen. Wenn ein Herr keinen Klaren möchte, bekommt er dennoch einen, dekoriert mit einer frischen Himbeere. So sieht im Westend ein Kompromiss aus.

Kleine Kneipen haben es längst schwer, sich zu behaupten

Seit zwölf Jahren führt Jäger das Westend. Alleine, von mittags bis spät in der Nacht, sieben Tage die Woche. „Das ist nicht leicht“, sagt sie mit slawischem Akzent, nippt an ihrem Mineralwasser. „Aber ich mache es sehr gern.“ Es sei schwerer geworden, sagt sie, vor allem, weil sie kein Essen anbiete. „Die meisten Gäste sind Stammgäste.“ Die kommen, weil man sie dort kennt. Weil sie dort zuhause sind. Die Konnotation von der Stammkneipe als zweitem Wohnzimmer – im Westend stimmt sie noch.

An diesem Montagabend läuft „Wer wird Millionär“ auf den Fernsehern. Irgendwas läuft immer bei Slavenka, gerne Sport. Manchmal stumm. Der Fernseher schafft Wohnlichkeit, die Quizshow ein familiäres Ambiente. „Nimm Fünfzig/Fünfzig“, rät die Besitzerin der Kandidatin, die den Gewinn für die Heavy-Metal-Kreuzfahrt Full Metal Cruise verwenden will. 50.000 Liter Bier seien da an Bord, stellt ein baffer Günther Jauch fest, das seien drei Liter Bier für jeden Passagier. Pro Tag. Zwei der Gäste an der Theke rechnen nach. „Das sind sechs Halbe. Nicht gerade viel.“

Viel geredet wird im Westend an diesem Abend nicht. Miteinander schweigen will gelernt sein. In schöner Regelmäßigkeit zapft Slavenka Bier mit erfahrener Präzision. Natürlich braucht bei ihr ein Pils keine sieben Minuten, das ist eine überholte Hopfenlegende. Doch es wird mit Ruhe und Andacht gezapft. Verständlich: Das Pils ist für die Eckkneipe das, was die Pizza für die Trattoria ist: Ein ernstes Thema.

Früher führte sie den Laden, in dem heute das Sutsche logiert, insgesamt gehen 50 Jahre Gastronomie auf das Konto der 68-Jährigen. Ans Aufhören denkt sie nicht, aber sie sorgt sich, dass der Vermieter das Haus verkauft und aus ihrer Kneipe eine Wohnung macht: „Niemand will mehr die alten Kneipen.“ Wie viel verloren geht, wenn Läden wie das Westend gehen, kann man gar nicht ermessen.

Eckkneipen sind auch ein Stück Kulturgut

Noch aber ist es da. Dieser Ort, an dem frische Blumen auf der Theke stehen, wo Nüsschen und Salzstangen gereicht werden und altmodische Lampen heimeliges Licht verbreiten. Nicht zeitgemäß, sagen manche. Das sind die Rolling Stones aber auch nicht. Zu deren Anfängen war der kleine Mann, der jetzt zur Tür hereinkommt, erwachsen. Ein Bier, ein Schnaps, mehrmals. Er spricht höflich, mit französischem Akzent, hat in Paris gelebt und im Orchester des Staatstheaters gespielt. Als er bezahlt und sich in seinem viel zu großen Mantel versteckt hat, dreht er sich verwirrt um. „Gute Frau, habe ich schon gezahlt?“, fragt er mit schwerer Zunge. Slavenka tätschelt ihm lächelnd die Hand, nickt, verabschiedet ihn. Höflichkeit und Anstand, sie sitzen hier oft an der Theke.