Sie gehört zu einer aussterbenden Gattung: Die Eckkneipe ist ein Stück alte Welt, das zwischen Gin Tonic und Craft Beer sukzessive verloren geht. Eine Reise zu den letzten ihrer Art. Heute: Das Seekneiple in Stuttgart-West.

S-West - Es sind ungemütliche Abende, an denen die Eckkneipe ihren Reiz offenbart. Wenn der Regen auf die Rotebühlstraße prasselt, wenn die Menschen mit gesenktem Blick vorbeihuschen, wenn sich die Rücklichter der Autos auf der nassen Straße spiegeln. Dann erscheint das leuchtende Schild der Gaststätte Seekneiple wie eine Oase in der Wüste.

 

Die Herzlichkeit kann man in keinem Bar-Seminar lernen

Dort, direkt neben dem Theater der Altstadt mit seinem ebenso unansehnlichen wie unverzichtbaren Riesenkopf über dem Eingang, regiert Gastwirt Foti (57, Hemd weit aufgeknöpft) seit 1996 mit jener unerschütterlichen Gelassenheit, die Menschen auszeichnet, die lange und leidenschaftliche VfB-Fans sind. Foti heißt einfach Foti und fertig. Aus der Ruhe bringen kann ihn nichts. Er führt eine Kneipe, die seit Menschengedenken jeden Tag geöffnet hat und für viele Stammgäste das Äquivalent zur Feuerseekirche schräg gegenüber ist. Foti ist so untrennbar mit dem Westen verbunden wie die Parkplatznot oder die Gründerzeitfassaden. Sein Seekneiple punktet nicht mit edlem Interieur, preisgekrönter Küche oder der besten Weinkarte. Sondern mit einer unaufgeregten Herzlichkeit, die man in keinem Bar-Seminar lernen kann. Man hat sie. Oder man hat sie nicht. Foti hat so viel davon, dass es immer für alle seine Gäste reicht.

Das sind an einem Montagabend einige. Im Raucherraum (durch eine verglaste Schiebetür abgetrennt, die aber die ganze Zeit offensteht) findet ein Wiedersehen alter Freunde statt, im Zigarettendunst wird bei ordentlich Bier über das Vergangene geplaudert, das Gegenwärtige ausgeblendet. An der Theke blicken einige Zecher mal mehr, mal weniger interessiert auf den Fernseher. Handball. Deutschland liegt deutlich gegen Slowenien zurück.

Bei aufkommenden Konflikten reicht der Wirt ein Schoklädle

Eine ältere Dame in feinster Ausgehmontur kommentiert das Geschehen mit wachsender Exzitation. „Daneben!“, stöhnt sie, dreht sich in perfekt inszenierter Verbitterung zur Seite und grummelt vor sich hin. Der Herr, der den Spielautomaten mit Münzen füttert, nimmt Anstoß an ihrer Schimpferei, für einen Montagabend sei ihm das zu viel.

Dicke Luft? Konfliktpotential? Von wegen. Foti serviert einem anderen Gast noch eben ein Bier (die Halbe kostet noch 2,80 Euro!), schlappt zu der älteren Dame, sagt: „Nimmsch du ein bisschen Schokolade.“ Manchmal braucht es nicht viel und die Welt ist wieder in Ordnung. Wer zu Foti geht, kann sich deswegen auf zwei Dinge verlassen: Es gibt warme Worte und kaltes Bier, außerdem geht die erste Runde Ouzo immer aufs Haus. Es sei denn er mag seine Gäste nicht. Aber das kommt so gut wie nie vor. Auch die Dame hat sich wieder beruhigt. Sie kramt in ihrer Handtasche, steht auf und adressiert den Spielautomatenmann. „Möget sie a Bonbon?“, fragt sie mit leiser, fast schüchterner Stimme. Der winkt ab, aber ein Lächeln huscht über sein unrasiertes Gesicht. Völkerverständigung geht so.

Bei Foti treffen sich nur die Vollblut-VfB-Fans

Bei VfB-Spielen herrscht eine ganz andere Stimmung. Das Seekneiple ist für viele Fans der Roten Wallfahrtsort und Kummerkasten in einem, unzählige Gäste haben dort unzählige Male gebangt, gezittert, sich manchmal vor Freude und sehr oft vor Kummer in den Armen gelegen. „Als wir abgestiegen sind, war das schlimm“, sagt Foti und kippt einen Ouzo hinterher. Der macht die Erinnerung wahrscheinlich erträglicher. Wer bei ihm ein VfB-Spiel schaut, ist kein Gelegenheitsgucker, kein Teilzeitfan. Er sagt „wir“ mit dem unerschütterlichen Wissen, dass man zusammen in dieser Misere hockt. Fußballfan ist kein leichtes Los. Foti weiß das natürlich. Der Grieche mit dem herrlichen Akzentmischmasch aus schwäbisch und griechisch brennt für die Roten, tanzt bei einem Sieg Sirtaki auf dem Tisch. Jamas!

Roter Faden neben Wimpeln, Postern oder Bildern des VfB: Urlaubsansichten aus Griechenland. Santorin, weiße Häuser, blaue See – ein Grieche bleibt eben ein Grieche, egal wie schwäbisch er über die Jahre geworden ist. Statt Gyros gibt es aber Schnitzel zur Halben. Das ist weithin bekannt. Nicht, weil es das beste Schnitzel der Stadt ist, es ist sogar weit davon entfernt. Aber weil es genauso zu diesem Ort gehört wie die legendär abgegriffene Sammlung an alten Zeitungsartikeln und Fotos, die jeder Neuling ungefragt vorgelegt bekommt. Wie Fotis Weisheiten auch: „Man lebt nur einmal, also immer viel lachen und Liebe machen.“