Der König ist zum Pflegefall geworden und muss um Bett, Essen und Kleidung betteln. Mit dem Solo „Egon King Madsen Lear“ stellen der Choreograf Mauro Bigonzetti und sein Star Egon Madsen im Theaterhaus auch die Frage danach, wie wir alt werden wollen.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - „Das Alter ist kein Ort für Weichlinge.“ Diesen Spruch soll Bette Davies zu ihrem 70. Geburtstag auf ein Kissen gestickt haben. Er gilt für jeden Menschen, vielleicht heute mehr als 1978. Aber für Künstler wie die amerikanische Schauspielerin scheint er noch ein bisschen wahrer. Denn gibt es etwas Tragischeres als einen Bühnenstar, der den richtigen Moment fürs Karriereende verpasst hat? Der als zu kleiner Schatten seiner selbst im Rampenlicht steht? Dann wirken einst glamouröse Gesten armselig, starke Stimmen klingen dünn, Sprünge geraten zu kurz. Aber klar: Ebenso tragisch ist es letztlich für jeden Menschen, wenn er im Zuge der lebenslang antrainierten Selbstoptimierung das Altwerden negiert.

 

Es sind Erkenntnisse dieser Art, denen sich ein Mann in Mauro Bigonzettis Solo-Tanzstück „Egon King Madsen Lear“ stellen muss. Ist er König, Star, Familienoberhaupt? „Wer bin ich?“, ist der erste Satz, den Madsen bei der Uraufführung am Sonntag im Theaterhaus spricht und damit der folgenden Stunde den Stempel einer Selbstbefragung aufdrückt. Einfacher als die Frage nach dem Status ist die nach dem Zustand des Greises zu beantworten, der zu Beginn des Stücks nur mit schlabbrigen Boxershorts bekleidet auf einem hölzernen Thron schläft. Wir sehen einen Alten, starrsinnig, verbittert, sehr einsam, immer mehr in die eigenen Wahnvorstellungen abdriftend; er ist offensichtlich am Ende einer Reise angelangt ist, überall stehen geöffnete Koffer, stapeln sich Kisten. Wie durch ein Archiv seiner Erinnerungen irrt er, das äußere Chaos ist ein Abbild des innern, das hat der Bühnenbildner Carlo Cerri anschaulich angerichtet.

Lear hockt auf einem Scherbenhaufen

Egon Madsen deutet an, dass er auch Lear ist, spricht markante Zitate mit einer Stimme, die Gehorsam gewohnt ist. Doch Ruhm, Königreich, Familie: die Pracht von einst ist flöten. Die Insignien der Macht liegen achtlos am Boden, hier ein Stück Rüstung, dort das Zepter; die Krone muss der Alte sogar ein Weilchen suchen und tut das in schönster Tapsigkeit. Die Töchter haben den unberechenbaren Vater entmachtet. Jetzt hockt er auf einem Scherbenhaufen und versucht sich zu erinnern, wie alles zu Bruch ging, lauscht den Stimmen im Kopf.

Mauro Bigonzetti lässt die Stimmen der drei Lear-Mädels zu einer verschmelzen, die Theaterhaus-Schauspielerin Katja Schmidt-Oehm spricht sie. Hart und knapp dringen sie aus den im Raum verteilten Tonbandgeräten, die der Alte auf der rastlosen Reise durch seine Erinnerungen immer wieder anstellt. „Alte Leute sind wie Kinder. Und Kinder, wenn sie frech sind, muss man schlagen“, sagt die Stimme. Wenn ihm das eigene Fleisch und Blut unvermittelt bittere Wahrheiten an den Kopf wirft, läuft das Minenspiel von Egon Madsens Lear zu Höchstform auf. Dann huscht ungläubiges Erschrecken wie ein letzter Sonnenstrahl über sein Gesicht, bevor die Wut der Erkenntnis als dunkle Gewitterwolke aufzieht.

Krone und Mantel werden zur Fessel

Mehr als Lear spielt Egon Madsen jedoch einen alternden Star. Das Premierenpublikum, in dem Weggefährten wie Marcia Haydée, Birgit Keil, Vladimir Klos und Tamas Detrich sitzen, kennt und schätzt den dänischen Tänzer als Teil des Stuttgarter Ballettwunders. Und so lagern in den Kisten auf der Bühne auch unsichtbar die Erinnerungen an Madsens große Zeit, als ihm John Cranko Rollen wie den Lenski, den Gremio auf den Leib choreografierte. Der Alte auf der Bühne geht auf dem Thron stehend Ballettpositionen durch, findet in den Übergängen Raum für Bruchstücke ruhmreicher Gesten, kleine wie große vermengt er zu einer tragikomischen Parodie. Sie unterstreicht, dass einem Künstler, der nicht reift, die alten Rollen zu groß werden, so wie diesem Lear-Star alles zu groß geworden ist: Im bodenlangen Strickmantel steckt er wie ein Mädchen in den Kleidern der Mutter, auf dem Thron wirkt er verloren, selbst die eigene Haut scheint ihm zwei Nummern zu groß und erzählt von verlorener Kraft, verschwundenen Muskelpaketen.

Die Krone, in der sich Madsens Hände verfangen, aber vor allem der üppige Mantel, den Gudrun Schretzmeier klug erdacht hat, machen sichtbar, wie Erinnerungen zum Gefängnis werden. Madsen packt die Mantelschöße, macht sie zu Flügeln, in die er sich dann wie in Fesseln verstrickt. Sehr sprechend ist auch Mauro Bigonzettis Musikauswahl von Thomas Tallis und Ralph Vaughan Williams, die von schwelgenden Höhen in tiefe Abgründe schaut.

Alter macht einsam

Anrührend und schön ist diese Theaterstunde nicht nur, weil Egon Madsen selbst genau das Gegenteil der Bühnenfigur scheint, die er für uns unter die Lupe nimmt. Er ist ein in Würde gereifter Charakterdarsteller, der mit Partnern wie Meryl Tankard in „Meryland“, mit Christian Spuck in „Don Q.“ und nun mit Mauro Bigonzetti den richtigen, altersgerechten Ton trifft. Zu Tränen rührt dieses Solo, weil der italienische Choreograf eine vielschichtige, vor allem sehr menschliche Erzählung gelingt. Sie entbeint den Konflikt um die Gier nach Macht, Ruhm und ihren Verlust, der Shakespeares Drama zu Grunde liegt, bis sein Skelett sichtbar wird: die persönliche Tragödie, zu der in „Egon King Madsen Lear“ das Altern wird, wenn Starrsinn, Eitelkeit und Realitätsverlust einsam machen, wenn sich die Rollen von Kindern und Eltern vertauschen, wenn einer wie Lear zum Pflegefall wird und um Bett, Essen, Bekleidung betteln muss. In einer Gestenfolge zwischen Beten, Boxen und Aufbäumen stürzt sich Madsen in diese Demütigung – und regt jeden zum Nachdenken darüber an, wie er selbst alt werden will. Wahrlich kein Stück, kein Ort für Weichlinge. Und kein Ding für den King Egon – für einen Bühnenabschied hat er noch zu viel zu sagen.

Termin 22. bis 25. Januar, 6. bis 8. März