Eigentlich dürfte Andreas Baranski in dieser Serie gar nicht auftauchen. Denn tatsächlich hat der heutige Plattenhardter nie an den Spielen teilgenommen. Eine dazu spannende und auch bittere Geschichte hat er trotzdem. Sie handelt von Politik, Boykott-Ärger und geplatzten Lebensträumen.

Filder/Plattenhardt - Es war der 15. Mai 1980, als die Mitgliederversammlung des bundesdeutschen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) eine Entscheidung traf, die so manchen Lebenstraum zerstören sollte. Der US-Präsident Jimmy Carter hatte bereits zuvor den Startverzicht der USA bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durchgesetzt – eine politische Reaktion auf den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan Ende des vorangegangenen Jahrs. An jenem 15. Mai wurde final über die Haltung der Bundesrepublik diskutiert, vor Millionen von Fernsehzuschauern. Thomas Bach war als damaliger Athletensprecher der einzige Sportler, der sich äußern durfte. Doch die Worte des heutigen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees fanden kein Gehör. Am Ende sprach sich die Mehrheit der Delegierten für einen Boykott aus. 59:40 Stimmen. Es heißt, dass vor allem die Vertreter der Wintersportverbände, die ihre eigenen Spiele in Lake Placid bereits gehabt hatten, sowie andere wie die Basketballer und Volleyballer, die für Moskau gar nicht qualifiziert waren, mit Ja votierten. Für sie selbst gab es ja auch nichts mehr zu verlieren.

 

Es war das erste Mal überhaupt, dass Deutschland freiwillig auf eine Teilnahme an Olympischen Spielen verzichtete. Insgesamt fehlten schließlich mehr als 60 Länder, darunter zahlreiche islamische Staaten – aber längst nicht alle großen europäischen Nationen. Unter anderen scherten Frankreich, Großbritannien und Italien aus. „Viele von uns Athleten hatten gehofft, dass unsere Politiker das auch noch tun würden“, sagt Baranski.

Vier Jahre später kehrt die Wut zurück

Der damals 20-jährige Leichtathlet von der LAV Ludwigshafen war eigentlich für den 1500-Meter-Lauf nominiert. „Ich weiß nicht mehr, was ich im ersten Moment gedacht habe, als ich von der Entscheidung erfuhr. Ich weiß auch nicht mehr, wer es mir gesagt hat. Ich weiß nur noch, dass ich ganz schön enttäuscht war“, sagt der heute 61-Jährige, der seit 2002 mit seiner Familie in Plattenhardt lebt. Das Trauma habe er dann aber relativ schnell abgehakt. Erst kurz vor den nächsten Spielen, 1984 in Los Angeles, flackerten Enttäuschung und Wut noch einmal in ihm auf: nämlich als klar war, dass er diesmal die geforderte Norm nicht schaffen würde. Und auch, weil sich längst bestätigt hatte, dass die vier Jahre zuvor getroffene Entscheidung „politisch überhaupt nichts gebracht hatte“. Die Afghanistan-Besetzung endete erst Anfang 1989 und läutete da dann den Zerfall der UdSSR ein.

Der Endlauf, und dort nicht Letzter werden – das war Baranskis Moskau-Ziel gewesen. Eine realistische Vorgabe, war er doch im Olympia-Jahr hinter dem Hagener Thomas Wessinghage und dem Wolfsburger Uwe Becker drittschnellster Deutscher über die 1500 Meter. Dass ihn der Boykott nicht ganz so hart traf, lag zum einen daran, dass die Berufung in die Olympia-Mannschaft für ihn aus heiterem Himmel gekommen war, und dass er eben ohne die ganz großen Ambitionen an den Start gegangen wäre. „Dabei sein ist alles. Das hätte für mich gegolten“, sagt Baranski, der am 9. Juni 1980 beim Länderkampf zwischen Polen und Deutschland in Warschau seine Bestmarke gleich um 4,77 Sekunden auf 3:36,43 Minuten verbessert und damit überraschend an das Tor zur Weltklasse geklopft hatte.

Der Schmerz der anderen

Bei anderen war der Schmerz größer. Zum Beispiel bei Guido Kratschmer. Der Zehnkämpfer aus Mainz hatte 1976 in Montreal Silber gewonnen und galt in Moskau als Goldfavorit. In einem Interview im vergangenen Jahr hat er noch einmal betont, dass er 25 Jahre gebraucht habe, bis sich der Frust über die genommene Chance einigermaßen gelegt hatte.

Auch die deutschen Handballer um den Spielmacher Heiner Brand sind ihrer Medaillenaussicht beraubt worden. „Ein Traum zerplatzte, der Höhepunkt in der Karriere eines Spitzensportlers fiel höherer Gewalt zum Opfer: Die Politik hatte über den Sport gesiegt“, wurde der spätere Bundestrainer einmal zitiert. 1978 war das deutsche Team Weltmeister geworden. Wie Brand hat auch Baranski die Spiele so gut wie gar nicht am Fernseher verfolgt. Heute, 41 Jahre später, hätte Baranski nicht einmal mehr gewusst, dass über seine Strecke der Brite Sebastian Coe dann Gold gewann.

Nur ein Andenken ist geblieben

Das einzige Andenken, dass der oft als 1500-Meter-Komet titulierte Pfälzer an die verpassten Spiele hat, ist eine Urkunde des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens. Auf der steht unter anderem: „Robustere Kräfte verhinderten den Start in Moskau.“ In welcher Schublade das Schriftstück steckt, weiß Baranski spontan nicht, aber er habe es „auf jeden Fall noch“. Im Gegensatz zu all den anderen Dingen, die es bei der offiziellen Einkleidung gegeben hatte. Am längsten hielt es der kleine Kobold-Regenschirm im Hause Baranski aus. Und auch die Sioux-Schuhe habe er lange getragen, sagt der Wahl-Plattenhardter. „Die waren echt chic und bequem.“ Der Trainingsanzug „in schrillem Blau mit gelben Streifen“ landete hingegen schon recht bald im Altkleidersack.

Als Entschädigung, oder wie Baranski es nennt „als Trostpflaster“, für die verpasste Moskau-Reise durften die deutschen Mittelstreckler noch im selben Sommer mit dem Bundestrainer Paul Schmidt in ein Trainingslager ins kanadische Vancouver. Immerhin. „Das Trainingslager war schön, und ich habe es in guter Erinnerung. Aber die Olympischen Spiele konnte es natürlich bei weitem nicht ersetzen“, sagt Baranski.

„Zeit, aufzuhören“

Als acht Jahre später der Kenianer Peter Kipchumba Rono bei den Spielen in Seoul in 3:35,96 Minuten zum Sieg über 1500 Meter rannte, hatte Andreas Baranski seine Spikes bereits an den Nagel gehängt. „Wenn man mal recht erfolgreich war und dann mehr oder weniger nur noch hinterherläuft, ist es an der Zeit, aufzuhören“, sagt der verhinderte Olympionike, der trotz des Boykotts und des damaligen schwarzen 15. Mai ein großer Fan der Leichtathletik geblieben ist.

Zur Person Andreas Baranski

Privates:
Andreas Baranski wurde am 10. März 1960 in Ludwigshafen geboren. Dort wuchs er auch auf und machte 1979 am Carl-Bosch-Gymnasium das Abitur. Nach zwei abgebrochenen Studiengängen (Lehramt Biologie/Sport und Diplom-Biologie) begann er 1983 eine Ausbildung bei der Stadt Stuttgart als Landschaftsgärtner. Danach studierte er an der Fachhochschule Nürtingen Landschaftsarchitektur. Seit 1992 arbeitet er beim Verband für Garten- und Landschaftsbau Baden-Württemberg mit Sitz in Musberg. Mit seiner Frau Susanne ist er seit 1986 verheiratet. Das Paar hat drei Kinder: Maximilian (27), Leonard (23, ebenfalls Läufer, für den VfL Sindelfingen) und Alexandra (21). Die Familie lebt seit 2002 in Plattenhardt.

Sportliches:; Baranski wurde unter dem Trainer Fritz Seilnacht bei der LAV Ludwigshafen groß, deren Trikot er sich bis 1982 überstreifte. Danach, bis zu seinem Laufbahnende 1987, startete er für den VfB Stuttgart. Der größte Erfolg des mehrfachen deutschen Jugendmeisters ist die 1983 errungene Silbermedaille über 1500 Meter bei den Studenten-Weltmeisterschaften. Bei den Hallen-Europameisterschaften 1982 in Mailand belegte er über 1500 Meter den fünften, ein Jahr später in Budapest den sechsten Platz. Seine deutschen Meisterschaftserfolge als Aktiver: 1979 Erster mit der Ludwigshafener 4 x 800-Meter-Staffel, 1981 Bronze über 1500 Meter, 1982 in der Halle erneut Staffel-Erster, diesmal über 3 x 1000 Meter. Für den VfB Stuttgart schließlich gewann Baranski mit Matthias Assmann, Hans Allmandinger und Herbert Wursthorn noch vier weitere deutsche Titel über 4 x 800 Meter. (sd)

Moskau 1980: Boykott und der Beginn einer großen Karriere

Moskau 1980 wird für immer vor allem als eines in Erinnerung bleiben: als die Boykott-Spiele (siehe auch oben). 42 Nationen verweigerten wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan eine Teilnahme, darunter als Initiatoren die USA mit ihrem Präsidenten Jimmy Carter – und im Sog das bundesdeutsche Team. 24 weitere IOC-Mitgliedsstaaten verzichteten, ohne konkrete Gründe zu benennen. Was die eigentlich Betroffenen anbelangt, Sportlerinnen und Sportler, gab es am Ende auf beiden Seiten praktisch nur Verlierer. Für die einen, die somit zum politischen Spielball wurden, platzten Träume und Ziele, auf die sie vier Jahre lang hingearbeitet hatten. Die anderen, die dann am Start waren, müssen damit leben, dass ihre Ergebnisse mit einem Aber behaftet bleiben. Olympisches Edelmetall? Toll, ja – aber zahlreiche Konkurrenten haben ja gefehlt.

In knapp zwei Drittel aller Wettbewerbe stellten die Gastgeber und die DDR den Sieger. Allein acht Medaillen gewann der Turner Alexander Ditjatin. Im Kanu paddelte eine 18-Jährige erstmals zu Gold. Ihr Name: Birgit Fischer. Wer konnte ahnen, dass sie einmal zur erfolgreichsten deutschen Olympionikin aller Zeiten werden würde? Und in der Leichtathletik elektrisierte das Mittelstreckenduell der britischen Laufstars Sebastian Coe und Steve Ovett.

Das bezeichnende Fazit jedoch zog später Willi Daume, der in seiner Funktion als Präsident des deutschen Nationalen Olympischen Komitees den eigenen Boykott nicht hatte verhindern können: Letzterer sei „eines der berühmtesten, aber widersinnigsten, überflüssigsten und politisch wie sportlich schädlichsten Ereignisse“ gewesen. (frs)