Stuttgart - Vor einem Jahr beendete Mario Gomez im Trikot des VfB Stuttgart seine Karriere. Nun beobachtet er als TV-Experte besonders die Champions League – hat aber auch seinen Ex-Club noch im Blick. Mit einer konkreten Aussicht auf ein Engagement?
Herr Gomez, nach einjähriger Pause sind Sie als Experte für Amazon Prime Video wieder auf der Bildfläche aufgetaucht – und wirken dabei körperlich noch topfit.
Danke. Aber es wäre ja auch dramatisch, wenn ich bereits fünfzehn Monate nach dem Ende meiner Karriere stark zugenommen hätte (lacht). Natürlich treibe ich weiterhin regelmäßig Sport – durch Corona war ich zuletzt viel laufen, und ich spiele auch regelmäßig Tennis, um mich fit und frisch zu halten. Seit ich nicht mehr gegen die Uhr laufe, genieße ich es sehr. Auf den Joggingrunden habe ich auch meine Gedanken sortiert. Das hat mir sehr viel Klarheit gebracht, wo ich stehe und was ich künftig machen möchte.
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Wie soll es denn für Sie in Ihrer zweiten Karriere weitergehen?
Zunächst hatte ich mir eine Auszeit für mich und meine Familie genommen. Klar ist, dass ich den Fußball vermisse, weil ich mehr als zwanzig Jahre gespielt habe. Dass das der Bereich ist, in dem ich mich auskenne und mich wiederfinde. Es gibt aber keine Leitplanken für mich, wo ich unbedingt hinwill. Klar ist nur, dass ich erst mal nicht Trainer sein will.
Sondern?
Ich werde künftig auch nicht der Mensch sein, der etwa im Namen eines Vereins Spielerverträge aufsetzt. Das ist nicht mein Metier, das habe ich nicht gelernt. Ich bringe aber aus meiner langen Spielerlaufbahn viel Menschenkenntnis mit, habe ganz unterschiedliche Charaktere erlebt und sie einzuschätzen gelernt. Im Profibereich wird heutzutage noch immer zu viel gegeneinander statt miteinander gearbeitet, es sind immer noch zu viele „Ich-AGs“ unterwegs. Ich bin jemand, der durch seine Erfahrungen die Menschen mitnehmen und positive Vibes einbringen möchte. Zudem möchte ich von anderen lernen – und letztlich meine eigene Perspektive entwickeln.
Emotionen im Business Profifußball
Könnten Sie sich ein Engagement beim VfB vorstellen?
Ich habe zuletzt viele Gespräche in ganz unterschiedliche Richtungen geführt. Jeder weiß, dass ich damals nicht einfach so zum VfB zurückgekommen bin. Es war für mich das schönste der Gefühle, dass ich meine Karriere beim VfB beenden durfte – und das war nicht gespielt, sondern das, was ich tief in mir drin empfunden habe. Insofern kann sich jeder vorstellen, was mir der VfB bedeutet. Doch ich bin auch in der weiten Fußballwelt unterwegs gewesen und weiß, dass Fußball nicht nur Emotion und Herz ist – sondern auch ein Business. Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Der VfB ist sportlich im Moment top aufgestellt, und daher stellt sich mir diese Frage nicht. Es gab keinerlei Gespräche dahingehend mit dem VfB, vielleicht irgendwann einmal in Zukunft, ja.
Beim VfB hat Vorstandschef Thomas Hitzlsperger erklärt, dass er seinen 2022 auslaufenden Vertrag nicht verlängern wird. Haben Sie damit gerechnet?
Nein, wie die meisten war ich sehr überrascht. Ich hatte zuletzt das Gefühl, dass sich die Führungsfiguren arrangiert hatten. Natürlich hätte der Zwist zwischen Thomas Hitzlsperger und dem Präsidenten Claus Vogt anders ausgetragen werden können. Aber das kommt in vielen Vereinen vor. Und Reibungen können einen Club ja auch nach vorne bringen. Letztlich ist es die Entscheidung von Thomas, die ich akzeptiere und auch ein Stück weit nachvollziehen kann.
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Wird sein bevorstehender Abgang beim VfB vieles durcheinander wirbeln?
Sportlich betrachtet glaube ich nicht, dass sein Abschied große Auswirkungen haben wird. Die Jungs haben ja auch gut gespielt, als der Präsident und der Vorstandsvorsitzende ihren Zwist öffentlich ausgetragen haben. Die Streitereien haben die meisten Spieler wenig interessiert. Die wollen hoch hinaus, die lassen sich von so was nicht abhalten.
Das bedeutet, dass die Rolle des Sportdirektors Sven Mislintat und des Trainers Pellegrino Matarazzo für die sportliche Zukunft des VfB entscheidend ist.
Sven ist ein streitbarer Geist, der auch mal aneckt. Ich hatte auch die ein oder andere Diskussion mit ihm (lacht). Aber er hat bewiesen, dass er junge Spieler nach Stuttgart holen kann, die halb Europa haben will. Und die Jungs zeigen jetzt, dass sie auf dem Platz funktionieren. Dazu hat der Verein in Rino den perfekten Trainer gefunden, der exzellent mit jungen Spielern arbeiten kann. Ich habe ihn ja noch erlebt. Er hat viel Empathie, Gefühl – und gibt den Jungs einen echten Input. Der VfB kann sich glücklich schätzen, dass er die beiden hat. Das ist sportlich das Fundament für die Zukunft.
Der Vergleich mit dem BVB und Jürgen Klopp
Bedeutet dies, dass die Position des Vorstandsvorsitzenden überschätzt wird?
Zuerst brauchst du den Verein in ruhigen Gewässern. Das klappt nur mit sportlicher Performance. Das heißt, es muss zunächst der richtige Trainer gefunden werden. Nehmen wir beispielsweise Borussia Dortmund. Dort macht Hans-Joachim Watzke einen tollen Job. Aber ich glaube nicht, dass der BVB diese Entwicklung genommen hätte, wäre nicht Jürgen Klopp viele Jahre ihr Trainer gewesen. Er hat sie vom Mittelmaß zum Erfolg geführt. Der VfB sollte die Epoche mit Mislintat und Matarazzo weiter nutzen, um etwas aufzubauen. Man sollte es als Verein wertschätzen, dass die beiden da sind, denn sie bringen einen absoluten Mehrwert. Dies zu erkennen und im Anschluss an diese Zeit, sollten diese Personen mal nicht mehr da sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen, das wird wichtig sein. Und da haben Watzke und seine Leute nach Klopp sicherlich ganz vieles richtig gemacht. Somit hat dies natürlich wiederum auch viel Einfluss auf das Sportliche.
Kann der VfB bald wieder international mitmischen?
Grundsätzlich halte ich nichts davon, im Fußball Fünfjahrespläne Richtung Champions League aufzustellen. Das hat zuletzt beim VfB der ehemalige Präsident Wolfgang Dietrich versucht – und es hat leider nicht geklappt. Ehrgeiz, Strategie und Philosophie sind das A und O im Fußball, keine Frage. Die Einzigen aber, denen diese langfristigen öffentlichen Ziele etwas bringen, sind die Medien (lacht). Beim Fußball bist du von vielen unberechenbaren Faktoren abhängig, die deine langfristigen Pläne über den Haufen werfen können. Wenn die Jungs beim VfB die nächsten fünf Jahre alle dableiben würden, könnten sie möglicherweise in fünf Jahren Vierter werden. Doch auf dem Weg dorthin werden dir womöglich zehn Spieler weggekauft. Das bedeutet, der Prozess wird zurückgeworfen. Daher ist es wichtig, Leute in der sportlichen Führung zu haben, die ein gutes Klima, eine Identität schaffen, um etwas aufzubauen.
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Ist es realistisch, dass die Bayern diese Saison die Königsklasse gewinnen?
Ja, denn sie haben gemeinsam mit dem FC Chelsea das wohl beste Gesamtpaket. Sie besitzen beide einen Toptrainer, einen außergewöhnlichen Stürmer, eine super Führungsachse und dazu eine homogene Truppe. Diese zwei Clubs sind meine Favoriten.
Was bedeutet die Königsklasse für Sie?
Ich bin ja ein Kind der Champions League, denn ich habe mein erstes Spiel als Profi im März 2004 als Einwechselspieler des VfB beim FC Chelsea gemacht. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich die Hymne höre. Wenn ich jetzt mit Mikrofon als Experte bei Amazon Prime Video auf dem Rasen stehe, bin ich einfach glücklich.
Die Probleme, die die Königsklasse schafft
Doch von der neuen Demut ist im Profifußball wenig zu spüren. Das Geschäft hat also auch seine Schattenseiten.
Das stimmt. Wenn man es grundehrlich betrachtet, dann hat die Champions League auch dafür gesorgt, dass der FC Bayern zuletzt neun Mal in Folge Meister werden konnte. Wenn es in der Bundesliga normal läuft, sind die Bayern immer in der Königsklasse dabei, sie hatten daher von Beginn an die Chance, konstant viel Geld einzunehmen. Sie arbeiten mit diesen Einnahmen fantastisch und sind deshalb nachhaltig erfolgreich. Ich bin ja selbst einer der Profiteure, hatte vier superschöne Jahre in München. Klar ist aber auch, dass die Königsklasse in den nationalen Ligen für große Veränderungen gesorgt hat: Die Großen wurden immer größer – und die Kleinen kleiner. Letztlich haben heute in Europas Topligen, mit sehr wenigen Ausnahmen, nur die Champions-League-Teilnehmer die realistische Chance, Meister zu werden. Damit ist leider ganz viel Spannung verloren gegangen.