Ehrenamtliche in der JVA Hohenasperg Mitgefühl mit einem Mörder – wie geht das?
Renate Brunst betreut ehrenamtlich Inhaftierte der JVA auf dem Hohenasperg. Manchmal ist sie für die Gefangenen die einzige Verbindung nach draußen.
Renate Brunst betreut ehrenamtlich Inhaftierte der JVA auf dem Hohenasperg. Manchmal ist sie für die Gefangenen die einzige Verbindung nach draußen.
Asperg - Renate Brunst kommt ins Schnaufen, während sie die 300 Meter vom Parkplatz hoch zur Sozialtherapeutischen Anstalt geht. Das letzte Wegstück auf dem Hohenasperg ist steil. Renate Brunst weiß nicht mehr, wie oft sie diesen Weg schon gegangen ist. Vor 20 Jahren war sie das erste Mal da, um Menschen zu besuchen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Verurteilte Straftäter, die gemordet, vergewaltigt oder jemanden schwer verletzt haben. Renate Brunst sitzt regelmäßig Männern gegenüber, mit denen die meisten Menschen nichts zu tun haben wollen. Oft nicht mal die eigene Familie. Die 74-Jährige versteht das nicht. „So schlimm das wäre, wenn mein Sohn jemanden umgebracht hätte, ich würde ihn nicht fallen lassen. Er wäre immer noch mein Kind.“
Dass viele Inhaftierte es anders erleben, das weiß sie aus zahlreichen Gesprächen, die sie mit ihnen geführt hat. Als ehrenamtliche Betreuerin baut sie den Verurteilten eine Brücke zurück ins normale Leben. So formuliert sie es. Es geht um Resozialisierung, darum, dass die Männer es schaffen, sich wieder einzugliedern in die Gesellschaft. Die meisten, mit denen die Ditzingerin zu tun hat, haben noch vier, fünf Jahre Haft vor sich.
Renate Brunst ist eine zierliche Frau, die jünger aussieht, als sie ist. Eine, die viel lacht, während sie erzählt, und die trotz ihrer schmalen Gestalt unerschütterlich wirkt. In ihrer Stimme schwingt Überzeugung mit. Bevor sie ihre Geschichte erzählt, gibt sie einen Brief in der Justizvollzugsanstalt (JVA) ab, den sie an einen Häftling geschrieben hat – in diesem Text soll er Peter heißen. Er sitzt in der Sozialtherapeutischen Anstalt seine Strafe ab. Seit vier Jahren haben sie Kontakt. Weil wegen Corona aktuell keine Besuche erlaubt sind, können sie nur schreiben oder telefonieren.
Peter hat jemanden umgebracht. „Das hat er mir gleich im ersten Brief erzählt“, sagt Brunst. Abgeschreckt hat sie das nicht. „Ich sehe den Menschen, nicht den Mörder.“ Sie hat sich selbst auferlegt, niemanden aufgrund einer Straftat zu verurteilen.
Renate Brunst ist gelernte Bürokauffrau und Erzieherin. Sie hat sich schon immer ehrenamtlich engagiert. Als Seelsorgerin hat sie Krebspatienten begleitet und in Indien in einem Waisenhaus und in einem von Mutter Teresa geleiteten Hospiz gearbeitet. In Nepal hat sie gemeinsam mit ihrem Mann ein achtjähriges Mädchen adoptiert, da waren die eigenen beiden Söhne bereits erwachsen.
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Auch in ihrem Wohnort Ditzingen hat sie sich eingebracht. Sie war ehrenamtliche Lesepatin in einer Bücherei und an einer Schule verantwortlich für die Sprachförderung. Sie hat sich im Café La Strada in Stuttgart engagiert, und bis heute gehört sie zum ehrenamtlichen Team der Vesperkirche. Ein Satz, den man von ihr immer wieder hört, lautet: „Man muss doch was tun!“ 2019 hat Renate Brunst das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Vor 20 Jahren erzählte ihr eine Bekannte von der JVA auf dem Hohenasperg. „Das war zu einer Zeit, als ich dachte: Warum gehst du ins Ausland? Hier gibt es doch auch Leute, die gesehen werden wollen, die Zuwendung brauchen.“ Zudem wollte sie nicht nur mit Sterbenden zusammensein, sondern auch mal etwas machen, „wo es weitergeht, wo Hoffnung ist“.
Renate Brunst erzählt, dass viele aus ihrem Umfeld immer noch erschrecken, wenn sie von ihrem Ehrenamt berichtet. „Sie sagen: Da hätte ich Angst! Was, wenn die mal vor deiner Tür stehen und irgendwas mit dir machen? Dich überfallen oder vergewaltigen!“ Renate Brunst lacht laut auf, so absurd findet sie die Vorstellung. „Es kursieren viele Vorurteile. Wenn ich einen Menschen vier oder fünf Jahre betreue bis zu seiner Entlassung, dann entsteht Vertrauen.“ Sieben Straftäter hat sie bisher betreut. Zu manchen hat sie noch Kontakt. Sie weiß, ob sie sich positiv entwickelt oder ob sie mit dem Leben zu kämpfen haben. Einer saß mal bei ihr am Esstisch bei Kaffee und Kuchen, um ihr die Freundin vorzustellen. Dass sie ehemalige Inhaftierte so nah an sich heranlässt, sei aber eine Ausnahme gewesen.
Als sie das erste Mal in die Sozialtherapeutische Anstalt kam, von Gittern und Stacheldraht umgeben, war sie nervös. „Was kommt da wohl auf dich zu?“, ging ihr durch den Kopf. Mittlerweile weiß sie, dass der Häftling ähnliche Gedanken hatte. Manchmal dauere es drei oder vier Besuche, sagt Brunst, bis man wisse, ob die Chemie stimmt. Vor der ersten Begegnung werden Briefe geschrieben. Die Treffen finden unter vier Augen statt, ohne Wachpersonal, hinter dicken Mauern. In einem kleinen Raum sitzen sie sich gegenüber. Die Fenster verriegelt, die Einrichtung freundlich, aber spartanisch. Anderthalb Stunden haben sie normalerweise Zeit, um sich auszutauschen. Sie erzählt von der Welt draußen. Er redet sich den Gefängnisstress von der Seele. Manchmal geht es auch um Politik, um die Impfpflicht, um das, was er nur aus Zeitungen kennt. Brunst glaubt, dass es den Männern leichtfällt, sich ihr zu öffnen, weil sie der Schweigepflicht unterliegt.
Für manche ist sie die einzige Verbindung nach draußen. Auch für Peter, der seit 17 Jahren einsitzt. Wenn sie ihm erzählt, dass die meisten Menschen sich heutzutage in der Bahn nicht mehr unterhalten, sondern auf ein Smartphone starren und dass über dieses Gerät das halbe Leben abgewickelt wird, dann erntet sie ungläubiges Staunen. „Die digitale Welt ist ihm fremd.“ Einmal durfte sie ihn mitnehmen in diese Welt. Weil er entlassen werden soll, bekommt er nach und nach Haftlockerungen. „Das geht ganz langsam los“, erzählt Brunst. Beispielsweise mit einem Spaziergang vom Hohenasperg zum Monrepos und wieder zurück. Der erste Einkauf in einem Supermarkt könne für einen Menschen, der viele Jahren in Haft war, überwältigend sein.
Mit den meisten Gefangenen spricht sie über die Straftaten, die sie begangen haben. „Ich würde nie danach fragen, aber die meisten kommen sehr schnell drauf zu sprechen.“ Das Wissen um die Hintergründe der Taten haben ihr Denken verändert. „Hinter jeder Straftat steht eine Lebensgeschichte. Hinter jeder Lebensgeschichte steht ein Schicksal.“ Sie hat diese Sätze auf einen Zettel geschrieben, den sie während des Gesprächs hervorholt. Die meisten Straftäter seien negativ geprägt, sagt sie. Vernachlässigt oder misshandelt worden in der Kindheit, manche im Heim aufgewachsen. Einer habe die Kontrolle über sich verloren, nachdem seine Partnerin und das ungeborene Kind durch einen tödlichen Unfall gestorben waren – einen Tag vor der geplanten Hochzeit. „Wenn man nicht gestärkt ist, wenn man nicht das Urvertrauen, die Liebe der Eltern hat, dann weiß man nicht, wie man mit seinen Gefühlen umgehen soll. Deshalb verurteile ich diese Menschen nicht.“
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Als ein pädophiler Sexualstraftäter ihr seine Akte zu lesen gab, kam sie an ihre Grenzen. „Da hat es mich gebeutelt. Das waren so viele Kinder, die er missbraucht hatte.“ Sie atmet hörbar aus und schweigt für einen Moment. Ganz lange habe sie mit ihm über die Taten geredet. So sehr sie diese verurteile, am Ende sah sie in ihm nicht mehr nur das Monster.
Wer Betreuer an der JVA werden möchte, muss einige Voraussetzungen erfüllen. Einer der Ansprechpartner ist der Seelsorger Harald Prießnitz. Er sagt: „Betreuer müssen in der Lage sein, eine kritische Distanz einzunehmen. Wenn jemand immer nur das Opfer in demjenigen sieht, funktioniert es nicht, und wenn jemand der Meinung ist, die gehören alle lebenslang weggesperrt, macht es auch keinen Sinn.“ Lebenserfahrung sei wichtig, und nur wer ein entsprechendes Führungszeugnis nachweisen könne, bekomme die Zulassung durch das Justizministerium. Rund 25 Ehrenamtliche engagieren sich im Rahmen der Straffälligenhilfe in der Sozialtherapeutischen Anstalt. Prießnitz betont, wie wichtig so ein Kontakt für die Inhaftierten sei. „Manche verlieren in der Haft jegliches Zeitgefühl und den Bezug zu alltagspraktischen Dingen.“
In Seminaren der Sozialberatung TIB in Ludwigsburg hat Renate Brunst im Laufe der Jahre viele Tipps zum Umgang mit Inhaftierten bekommen. Sie engagiert sich nicht nur als Einzelbetreuerin, sondern auch gemeinsam mit den Gefängnisseelsorgern in Gesprächskreisen und anderen Gruppen, etwa im Vollzugskrankenhaus. „Das Schönste war für mich immer der Chor“, sagt sie. Einmal in der Woche sei ein Chorleiter aus Hessigheim in die Sozialtherapeutische Anstalt gekommen, um mit den Häftlingen zu singen. Songs der Beatles wurden da geschmettert. Gospels. Alte Schlager. Sie erinnert sich an Männer, die nach der Probe beseelt und vor sich hinsummend in ihre Zellen zurückkehrten.