Passend zum Ehrenamtspreis Stuttgarter/Stuttgarterin des Jahres 2025, der diese Woche wieder startet, geben Expertinnen Einblicke in das vielfältige bürgerliche Engagement in Stuttgart.
Bei Tina Huh (Freiwilligenagentur), Ulrike Holch und Martina Kelm (Freiwilligenzentrum Caleidoskop) laufen viele Fäden rund ums Thema Ehrenamt in Stuttgart zusammen. Wo liegen die Herausforderungen? Was für Wünsche haben die Expertinnen?
Frau Huh, Frau Holch, Frau Kelm– wie nennen wir das eigentlich, über das wir reden. Spricht man noch von Ehrenamt?
Huh: Wir reden momentan von freiwilligem oder bürgerschaftlichem Engagement oder einfach nur von Engagement. Der Begriff ist noch nicht zu Ende gedacht und muss sich noch weiterentwickeln.
Kelm: Ehrenamt trifft’s zum Teil sicherlich noch. Unter dem Begriff bürgerschaftliches Engagement lässt sich aber deutlich mehr subsumieren.
Holch: Man muss den Begriff auch mit neuen Definitionen füllen. Mit dem, was Engagement ausmacht, also Vielseitigkeit.
Sie vertreten zwei Einrichtungen, die sich mit freiwilligem Engagement beschäftigen. Was macht die städtische Freiwilligenagentur, Frau Huh?
Huh: Die Freiwilligenagentur gehört zum Bereich Förderung bürgerschaftlichen Engagements. Sie ist die erste Anlaufstelle bei der Stadt für alle, die sich für ein Ehrenamt interessieren. Ebenso für Organisationen, die bei dem Thema Unterstützung brauchen. An vier Tagen in der Woche können die Menschen zu uns kommen. Wir haben auch eine digitale Plattform, unsere Freiwilligenbörse, über die Interessierte, direkt mit Organisationen Kontakt aufnehmen können.
Frau Holch, Frau Kelm, Sie vertreten Caleidoskop, das Freiwilligenzentrum des Caritasverbands Stuttgart. Für was steht dieser Begriff?
Holch: Im Caleidoskop bringen wir alles zusammen, was mit Ehrenamt und gesellschaftlichem Engagement zu tun hat. Zusätzlich zu dem, was die Freiwilligenagentur anbietet, werden Interessierte von Fachkräften, unseren Ehrenamtsmanagerinnen, in ein für sie passendes Engagement begleitet. Zusätzlich vermitteln wir Freiwilligendienstler und organisieren Projekte mit Ehrenamtlichen – von der Wohnraum-Akquise, über Mentoringprojekte bis zur Übernahme von Verantwortung für das Miteinander in verschiedenen Wohnquartieren. Wir sehen uns als Ergänzung zur Freiwilligenagentur und entwickeln mit der Bürgerstiftung auch eine gemeinsame Plattform mit dem Ziel, Interessierte schneller und zielgerichteter ins Engagement begleiten zu können.
Wie ausgeprägt ist freiwilliges Engagement in Stuttgart heute?
Kelm: Genaue Zahlen haben wir nicht. Laut Bürgerumfrage 2023 waren rund 200 000 Stuttgarterinnen und Stuttgarter freiwillig aktiv, immerhin ein Drittel der Bürgerschaft.
Huh: Bei der Freiwilligenagentur gehen pro Monat rund 200 Anfragen ein. Das ist eine tolle Zahl. Überhaupt sehen wir steigende Zahlen. Das Besondere an der Engagements-Landschaft in Stuttgart ist, dass sie rasch auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert. Das haben wir zuletzt bei der Corona-Pandemie oder beim Ukraine-Krieg gesehen.
Welche Trends stellen Sie beim Ehrenamt fest?
Huh: Wir sehen generell eine starke Tendenz in Richtung Natur, Umwelt- und Tierschutz. Wir erleben aber auch ein ganz erstaunliches Engagement junger Menschen, die sich für Ältere einsetzen mit teilweise sehr persönlichen Begründungen. Eine junge Frau sagte mir: „Meine Oma wohnt 600 Kilometer weg. Ich vermisse sie, ich kümmere mich jetzt hier um eine alte Dame.“ Junge Menschen sind thematisch sehr breit engagiert. Sie fühlen sich zugehörig und wollen etwas bewegen.
Man hört oft, jüngere Leute würden sich nur kurzfristig und vor allem projektbezogen engagieren. Braucht es mehr nachhaltiges Engagement?
Holch: Ich tue mich schwer mit dieser Unterscheidung, denn Engagement ist immer wichtig und angebracht. Ich weiß, dass manche Einrichtungen sagen, wir setzten auf ein längerfristiges Engagement, weil es im Kontakt mit Menschen einfacher ist. Ich denke, diese Einrichtungen werden dazulernen müssen, weil sich Menschen immer weniger über lange Zeiträume festlegen lassen. Das kürzere Engagement ist en vogue – wie bei einem Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt. Gleichzeitig kann man auf langfristiges Engagement aber nicht verzichten, weil das auch das Ende unserer Vereinslandschaft bedeuten würde. Da müssen wir als Ehrenamtsvermittlerinnen noch mehr tun.
Was zum Beispiel?
Kelm: Ein großes Thema sind für uns die Menschen, die sich engagieren wollen, aber leider noch nicht so gut Deutsch können. Es kommen täglich Anfragen von Menschen aus Geflüchtetenunterkünften, die noch nicht arbeiten dürfen, aber gerne eine Tagesstruktur hätten. Es ist eine große Herausforderung für diese Menschen Einsatzmöglichkeiten zu finden, weil den Einrichtungen schlicht die Zeit fehlt, sich um Ehrenamtliche zu kümmern und sie adäquat in ihrem Ehrenamt zu begleiten, insbesondere natürlich dann, wenn sie zusätzlich Sprachschwierigkeiten haben.
Die Stuttgarter Bürgerstiftung, mit der Sie zusammenarbeiten, prognostiziert, das freiwilliges Engagement noch wichtiger werden wird. Was ist zu tun?
Holch: Ich gebe der Bürgerstiftung recht. Wir werden aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen mehr Probleme in den Einrichtungen bekommen. Das kann man durch Ehrenamt auffangen, aber nur, wenn es Menschen gibt, die Ehrenamtliche anleiten. Dafür sind jedoch keine Mittel vorgesehen. Politiker nehmen das Thema Ehrenamt gerne in den Mund. Beim Geld hapert’s dann aber, weil man meint, Ehrenamt dürfe nichts kosten. Doch so funktioniert’s nicht. Da wünsche ich mir auch mehr Unterstützung von der Stadt Wir könnten mehr Menschen ins Ehrenamt vermitteln, wenn wir die entsprechende Personalausstattung hätten.
Sind Ehrenamtliche Lückenbüßer?
Huh: Genau das sollen sie nicht sein. Menschen, die sich engagieren, wollen etwas erfahren und sie wollen etwas geben. Das ist ein Miteinander auf Augenhöhe und kein einseitiger Prozess. Als Freiwilligenagentur beraten wir Organisationen, wie sie Freiwillige in ihrer Arbeit unterstützen können. Ich verweise auch gerne auf den Experimentierraum in der Katharinenstraße neben dem Züblinparkhaus, der Initiativen zur Verfügung steht. Diese Angebot wird gut angenommen. Es ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein wichtiger Tropfen.
Viele Ehrenamtliche klagen über bürokratische Hürden, die sie behindern würden. Haben sie recht?
Holch: Ja, es gibt bürokratische Hürden, zum Teil sind sie aber berechtigt. Da geht es zum Beispiel um den Schutz vor sexuellem Missbrauch. Wir müssen sicherstellen, dass keinem etwas passiert. Es ist auch wichtig, das Thema Arbeitsumfang zu regeln. Unnötig und belastend ist, dass wir zum Teil ewig lange auf Führungszeugnisse warten müssen.
Huh: Ich schließe mich da an. Als Freiwilligenagentur haben wir eine Sorgfaltspflicht. Wir schützen damit gleichermaßen die Ehrenamtlichen und die Schutzbefohlenen in den Einrichtungen.
Thema Anerkennungskultur. Für wie wichtig halten Sie es, dass freiwilliges Engagement öffentlich gewürdigt wird?
Holch: Das hat natürlich eine Bedeutung. Ich denke, es braucht unterschiedliche Formen der Anerkennung. Unsere Anerkennungskultur sollte so vielfältig wie die Ehrenamtlichen selbst sein. Die einen freuen sich über die öffentliche Wahrnehmung, andere wollen lieber im Hintergrund bleiben. Ich hätte gerne mehr konkrete Vergünstigungen für Ehrenamtliche, etwa freien Eintritt in die Oper. Es gibt viele Ehrenamtliche, die können sich das nicht leisten. Es wäre schön, wenn wir da großzügiger sein könnten, denn es geht ja immer auch um Teilhabe.
Kelm: Mehr Benefit für unsere Ehrenamtlichen fände ich in der Tat wichtig. Gerade auch für jüngere Freiwillige. Mal ein Kinogutschein oder ein Beitrag zum Deutschlandticket wäre attraktiv.
Der Stuttgarter Gemeinderat hat sich jüngst für die Einführung der landesweiten Ehrenamtskarte entschieden. Was halten Sie von diesem Schritt?
Huh: Ich freue mich sehr darüber. Wir versuchen, so vielfältige und attraktive Angebote wie möglich zu akquirieren und haben schon erfreulich viele Rückmeldungen von Organisationen bekommen, die sich für diese Karte interessieren. Ich sehe darin ein weiteres Instrument städtischer Anerkennung von Engagement – neben der Ehrenmünze, die in den Bezirken vergeben wird, und der Ehrenplakette, die der Oberbürgermeister beim jährlichen Bürgerempfang verleiht.
Formen der Anerkennung sind auch der Bürgerpreis der Bürgerstiftung und der Ehrenamtspreis Stuttgarter/Stuttgarterin des Jahres der beiden Stuttgarter Zeitungen und der Volksbank Stuttgart, der mit insgesamt 15 000 Euro dotiert ist. Welchen Stellenwert hat das?
Huh: Ich find das eine sehr schöne Art der Würdigung von freiwilligem Engagement, denn Ihr Preis stellt ja bewusst auch diejenigen nach vorne, die oft nicht gesehen werden. Ich finde auch die finanzielle Anerkennung einen sehr wichtigen Bestandteil.
Teil des Ehrenamtspreises ist auch ein Schülerpreis, der sich an Klassen oder Schülergruppen richtet, die sich freiwillig engagieren. Wie wichtig ist speziell dieses junge Engagement?
Huh: Sehr wichtig. Je früher man mit freiwilligem Engagement in Berührung kommt, desto besser kann man das mit Leben füllen.
Holch: Als Freiwilligenzentrum bieten wir ein freiwilliges soziales Schuljahr an, wo Schülerinnen und Schüler ein Jahr lang in einer Einrichtung mithelfen können. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv. Ich glaube, dass junge Menschen super offen sind und sagen: Ich würde mich gerne einbringen, weiß aber oft nicht wie.
Welche Wünsche haben Sie beim Thema Engagement?
Holch: Ich träume von einer Gesellschaft, in der jeder sagt, ich bringe den Teil ein, den ich einbringen kann. Sei es eine halbe Stunde im Monat oder eine halbe Stunde am Tag. Dann, glaube ich, wären wir eine andere Gesellschaft und würden anders miteinander umgehen. Wenn wir uns mehr um unsere Nachbarn kümmern würden – und damit übrigens auch um uns selbst – hätten wir auch weniger Probleme mit dem Thema Einsamkeit.
Kelm: Mehr Menschen, die über das Ehrenamt miteinander in Kontakt kommen – das täte der Stadtgesellschaft gut.
Huh: Ich wünsche mir, dass das Engagement gerade von jungen Menschen mehr wahrgenommen wird, die sich neben Studium, Ausbildung, Beruf umfangreich engagieren.
Holch: Ja, es ist aber auch wichtig zu betonen, dass sich jedes Alter engagieren kann. Nicht umsonst sagt man: Ehrenamt hält gesund!
Personen und Ehrenamtspreis
Die Gesprächspartnerinnen
Die gebürtige Stuttgarterin Tina Huh, 57, hat Politikwissenschaft in München studiert. Sie ist Leiterin der Freiwilligenagentur bei der Stadt Stuttgart. Ulrike Holch, 57, kommt aus Tübingen. Die Diplom-Pädagogin, Betriebswirtin (KA), Mediatorin und CSR-Managerin (IHK) leitet das Freiwilligenzentrum Caleidoskop. Dort hat man aktuell Grund zu feiern: Anlässlich des 20-jährigen Bestehens lädt das Freiwilligenzentrum am 25. September Förderer, Freunde und Interessierte zwischen 11.30 Uhr bis 21 Uhr in die Brennerstraße 36 ein. Martina Kelm, 56, stammt aus Ibbenbüren. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin/-pädagogin (FH) und Systemische Beraterin (SG) und arbeitet als Ehrenamtsmanagerin beim Freiwilligenzentrum Caleidoskop.
Ehrenamtspreis
Gemeinsam schreiben Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten und die Volksbank Stuttgart den mit 15.000 Euro dotierten Ehrenamtspreis Stuttgarter/Stuttgarterin des Jahres aus. Gewürdigt werden damit Menschen, die sich in Stuttgart in besonderer Weise bürgerschaftlich engagieren.
Vorschläge
Wenn Sie jemanden kennen, der diesen Preis verdient, dann schicken Sie uns bitte bis 19. Oktober Ihren Vorschlag und begründen Ihre Auswahl kurz. Es können auch mehrere Vorschläge eingereicht werden. Dasselbe gilt für den Schülerpreis, der Teil des Ehrenamtspreises ist und freiwilliges Engagement von Schülerinnen und Schülern honoriert. Hier dürfen sich auch die Stuttgarter Schulen angesprochen fühlen. Wir freuen uns über Ihre Vorschläge per Mail unter: stuttgarter-des-Jahres@stz.zgs.de oder per Post unter: Stuttgarter Zeitung, Plieninger Straße 150, 70567 Stuttgart. Weitere Infos gibt es unter: www.stuttgarter-des-jahres.de