Ohne Wahl gibt es keine Demokratie. Uns erscheint dies selbstverständlich. Millionen von Menschen müssen das Joch autoritärer Regime ohne freie Wahlen ertragen. Das formale Wahlrecht muss freilich mit Inhalten gefüllt werden. Es verkümmert auf Dauer auch dann, wenn es an Alternativen mangelt, weil die relevanten politischen Parteien sich in ihren wesentlichen Vorstellungen und Forderungen kaum noch unterscheiden, wenn sich ein Wahlkampf auf den Wettbewerb von Medienberatern um verlockende Parolen und Schlagworte reduziert. In Deutschland gibt es ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht. Es ist eine legitime Entscheidung jedes einzelnen Bürgers, sich der Abstimmung zu verweigern. Ein kleines Warnsignal für jede Demokratie ist es, wenn die Nichtwähler zur stärksten Partei werden – so wie in Deutschland. Eine lebendige Demokratie erträgt das. Was sie nicht erträgt, ist, wenn die Wahlverweigerung zu einem Schichtenproblem wird. Bei uns ist das so. Deutschlands Reiche gehen fast alle wählen; sie versprechen sich etwas davon. Immer mehr Arme aber verweigern sich der Wahl. Sie verhalten sich so, nicht etwa weil sie unpolitisch wären, sondern weil sie von der real existierenden Politik nichts mehr erwarten. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Grundregeln der Demokratie. Das ist ein Desaster. Aber es interessiert keinen.

 

Stefan Geiger