„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ So steht es im Grundgesetz – mehr nicht. Natürlich reicht ihre Macht längst viel weiter. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat vor vielen Jahren einmal behauptet, die Parteien hätten den Staat zu ihrer Beute gemacht. Spätestens seit den großen Bankenskandalen und der folgenden Finanzkrisewissen wir, dass andere diese Beute den Parteien wieder entrissen haben. Die Politiker und mit ihnen die Parteien sind zu Getriebenen der Finanzmärkte geworden. Wir sollten dieParteien nicht zu sehr verachten. Die Bürger können, wie wir jüngst wieder erkannt haben, Parteien, die ihr Vertrauen verspielt haben,zumindest abstrafen. Das können die Bürger mit den wenigsten tun, die über sie im realen Leben Macht haben. Ja, Parteien schachern und feilschen, sie schließen Kompromisse, auch faule Kompromisse, sie brechen ihr Wort. Wir können es alles gerade wieder beobachten beim Ringen um eine neue Regierungsmehrheit. Das ist aber allemal besser als eine Macht, die zu ihrem Erhalt keines Kompromisses bedarf. Das ist Demokratie. Mehr Freiheit haben wir nicht. Der demokratische Sektor dieserGesellschaft ist ziemlich klein geworden. Auch weil die Macht der Parteien schrumpft.

 

Stefan Geiger

Stefan Geiger

Facebook-Revolution

Facebook ist das weltweit bedeutendste soziale Netzwerk. Etwa eine Milliarde Menschen nutzen den Online-Dienst. 2011 machten einige Journalisten Facebook sogar zum Namenspatron für – siehe Interview links – die Aufstände in Tunesien und Ägypten, ähnlich wie 2009 im Iran, als die Grüne Revolution als Twitter-Revolution deklariert wurde.

In der Tat haben sich in beiden nordafrikanischen Ländern viele Demonstranten über Facebook, Twitter, Youtube & Co. zu Protestaktionen verabredet, haben Informationen ausgetauscht und Videos hochgeladen. Und vermutlich haben Facebookseiten wie „We are all Khaled Said“ – Khaled Said war ein junger Internetaktivist in Ägypten, der 2010 von zwei Polizisten zu Tode geprügelt wurde – auch als Brandbeschleuniger gewirkt, immerhin hat die Seite derzeit noch mehr als 295 000 Anhänger.

Die Bezeichnung Facebook-Revolution ist dennoch irreführend. Das Netzwerk hat sowohl in Ägypten als auch in Tunesien als elektronisches Flugblatt und Sprachrohr der Generation Internet eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, aber doch nicht die entscheidende. Die Blogger Sascha Lobo und Kathrin Passig bringen es auf den Punkt: „Den entscheidenden Part der Aufstände in Nordafrika spielten mutige Bürger, die auf Straßen protestierten, und nicht Pixel.“

Anja Treiber

Occupy Wall Street

Ein gewisses Maß an Hybris ist der „Occupy Wall Street“-Bewegung nicht abzusprechen. „Wir sind die 99 Prozent“, lautete der vollmundige Slogan der Aktivisten, die im September 2011 – inspiriert von den spanischen „Indignados“ und dem Arabischen Frühling – den New Yorker Zuccotti-Park besetzten und damit weltweit Nachahmer fanden. Die Proteste richteten sich gegen wachsende soziale Gegensätze, gegen die Macht der Banken, vor allem aber gegen jenes ominöse eine Prozent der Finanzelite, deren „Gier“ als Ursache der globalen Krise ausgemacht wurde.

„Das Problem ist nicht Verderbtheit oder Gier, das Problem ist ein System, das Menschen dazu treibt, verderbt zuhandeln“, kritisierte der Philosoph Slavoj Zizek diese Verkürzung: Moralisierungen und Personalisierungen, die wohlfeile Suche nach dem kleinen und verschworenen Kreis Böswilliger, würden systemische Ursachen der Krise verdecken und seien Kennzeichnen einer Kapitalismuskritik, mit der auch Neonazis hausieren gingen.

Gleichwohl sei es das Verdienst von Occupy, die Hegemonie des „neoliberalen Modells“ gebrochen zu haben, meint der politikwissenschaftler Claus Leggewie. Und: dank Occupy sind David Graeber oder Mark Greif weltweit bekannt geworden, Intellektuelle also, welche die Frage aufwerfen, was Demokratie im 21. Jahrhundert heißen kann. Und das ist mitnichten eine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen man sich daran gewöhnt hat, dass Technokraten „durchregieren“.

Daniel Hackbarth

Eigentum

Eigentum ist eine Voraussetzung für Freiheit. Wie unfrei ein Mensch ohne Eigentum ist, können in Deutschland am ehesten jene beurteilen, die im Notfall fast alles vom mühsam Ersparten aufbrauchen müssen, bevor sie vom Staat Hartz IV bekommen. Eigentum kann in einem entfesselten Kapitalismus zur tödlichen Waffe werden. Die Wanderarbeiter in China und anderswo erleben es täglich. Das Grundgesetz ist weise. Es garantiert das Eigentum und betont dessen Sozialpflichtigkeit: „Eigentum verpflichtet.“ Die Garantie wird durchgesetzt.

Am Mut zu erklären, wozu Eigentum verpflichtet, mangelt es indes. Jene Ideologien, die das Eigentum gering geschätzt haben, sind untergegangen – einerseits. Andererseits ist das Verfassungsgebot, der Gebrauch des Eigentums solle auch dem Wohl der Allgemeinheit dienen, spätestens seit der großen Finanzkrise zur Lachnummer verkommen. Eine Gesellschaft aber, die beim Eigentum die Balance nicht hält, wird ebenfalls untergehen. Früher oder später.

Stefan Geiger

Montagsdemonstration

Wenn sich ein Protest verstetigen will, braucht er Rituale. Und der Protest gegen das diktatorische Regime in der DDR wollte sich genauso verstetigen wie der Protest gegen die unsozialen Hartz-IV-Gesetze in der vereinten Republik und der Protest gegen das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Daher der Montag als fester Tag der Manifestation – wobei das Copyright für die Montagsdemonstration“ eindeutig in Leipzig liegt.

Am Montag, dem 4. September 1989, gingen die Bürger dort zum ersten Mal gegen die SED-Herrschaft massenhaft auf die Straße – und weil es Woche für Woche immer mehr Menschen in immer mehr Städten wurden, sackte das Regime unter der Wucht des Protestes einfach in sich zusammen. Das war die „friedliche Revolution von 1989“, deren sanft-unblutiger Verlauf den Grund dafür liefert, dass die „Montagsdemonstration“ von Haus aus überaus positiv besetzt ist.

Kein Wunder, dass sich die S-21-Gegner dieses Sympathie-Label krallten, als sie im November 2009 vor dem Bahnhof ihre eigenen Montagsdemos starteten: als Kundgebungen mit dem Ziel, eine Gegenöffentlichkeit zur herrschenden Bahn-Propaganda zu schaffen. Das ist ihnen gelungen, hat aber nicht jedem gefallen, auch nicht den Autofahrern, die wegen der Protestumzüge regelmäßig im Stau standen. Für sie klingt „Montagsdemonstration“ nach Bedrohung, für S-21-Befürworter übrigens auch. Am kommenden Montag gibt’s in Stuttgart die 161. Ausgabe.

Roland Müller

Shitstorm

Mit den sozialen Netzwerken im Internet ist eine neue Spielart des Kritisierens und Protestierens entstanden: der Shitstorm. Meist hat er einen konkreten Anlass und richtet sich gegen ein Unternehmen, einen Politiker oder ein politisches Vorhaben. Ein Shitstorm ist kein nachhaltiger politischer Diskurs, sondern eine kurze, aber heftige Empörungswelle, die durch die schiere Masse der daran Beteiligten geeignet ist, politischen Druck aufzubauen – die Qualität der vorgetragenen Argumente ist dabei eher nachrangig.

Innerhalb weniger Stunden lassen also Tausende von Menschen auf den Facebook-Pinnwänden des Betroffenen, per Twitter oder mit Blogeinträgen ihrem Unmut freien Lauf. Nicht selten mischen sich unter die Kritik wüste Beschimpfungen und Beleidigungen.

Erst in der vergangenen Woche brach ein solcher Sturm der Entrüstung über den Onlineversandhändler Amazon herein. Ausgelöst wurde der Shitstorm durch einen kritischen Fernsehbeitrag, der den Umgang des Weltkonzerns mit ausländischen Leiharbeitern thematisierte – und für ein großes Echo in den sozialen Netzwerken sorgte. Und es passierte etwas, das nicht immer passiert: Die Politik hat sich des Themas angenommen, und Amazon hat Konsequenzen gezogen.

In den meisten Fällen geschieht dies nur, wenn zuvor auch traditionelle Medien die Empörung und das Thema aufgegriffen und so den Druck potenziert haben.

Anja Treiber

Volksversammlung

Stuttgart im Frühjahr 2011, die Zeit des Aufbruchs: die Regierung, die für den schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten verantwortlich war, ist abgewählt worden. Das Land blüht grün-rot auf, und der neue Ministerpräsident verschreibt sich der „Politik des Gehörtwerdens“. Letzteres, die Stimme zu erheben in der Hoffnung, ein offenes Ohr zu finden, nehmen die Bürger wörtlich und rufen auf dem Stuttgarter Marktplatz zu Volksversammlungen auf.

Prominente Politiker stehen Rede und Antwort, leibhaftig, unter freiem Himmel und vor mehreren hundert, auch mal mehreren tausend Bürgern, die ihre Anliegen offen und frei vortragen können. Den Auftakt macht im Juni der Ministerpräsident, den Schlusspunkt setzt im November der Justizminister – nach sieben Volksversammlungen ist das Experiment „Wir reden mit“ vorbei. Geblieben aber ist die Erinnerung an eine Form der direkten Demokratie, die in ihren Anfängen bis zur griechischen Polis zurückreicht.

Anders als im antiken Athen sind bei den Stuttgarter Bürgertreffen natürlich keine Beschlüsse gefasst worden, wir leben schließlich in repräsentativ parlamentarischen Zeiten. Trotzdem muss man kein politischer Romantiker sein, um das Feuer der Aufklärung zu sehen, das diese Volksversammlungen bis zum Herbst 2011 angetrieben hat. Glückliches Stuttgart!

Roland Müller

Postdemokratie

Es kommt nicht häufig vor, dass ein Theoretiker mit einem Schlagwort eine ganze Debatte prägt. Ulrich Beck ist das in den 1980er Jahren, in Zeiten von Tschernobyl, mit der „Risikogesellschaft“ gelungen, Colin Crouch ist dasselbe mit seinem 2004 veröffentlichen Buch „Postdemokratie“ geglückt. Die These von der Postdemokratie besagt, dass die westlichen Gesellschaften durch die Aushöhlung demokratischer Prozesse charakterisiert sind.

Ausdruck finde das etwa darin, dass Wahlen zum PR-Spektakel verkommen und politische Konflikte zu Gunsten eines technokratischen Regierungsstils verdrängt werden. In Maggie Thatchers Satz „There is no alternative“, der durch Angela Merkel eine Neuauflage erlebt hat, würden sich diese Symptome verdichten. So werde unter dem Deckmantel vermeintlich fehlenden Gestaltungsspielraums de facto immer eine bestimmte Politik durchgesetzt, und zwar jene, welche die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben forciert.

Die belgische Philosophin Chantal Mouffe entgegnet der Rede von der Alternativlosigkeit, dass das Politische gerade durch Konflikte gekennzeichnet sei, die sich eben nicht technokratisch entscheiden lassen, sondern in denen prinzipiell unversöhnliche Standpunkte aufeinandertreffen. Gerade in essenziellen Auseinandersetzungen habe ein Schlichtungsverfahren keinen Sinn. An welchen Experten sollte man denn die Frage delegieren, was unter einem „guten Leben“ zu verstehen sei? Demokratie besteht Mouffe zufolge darin, Konflikte zivilisiert auszutragen, statt zu verdrängen.

Daniel Hackbarth

Freiheit

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der Gerechtigkeit, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die Freiheit zum Privilegium wird.“ Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Aber schon lange war die bundesdeutsche Gesellschaft dieser Forderung von Rosa Luxemburg nicht so ferne wie heute. Freiheit ist die Möglichkeit, sich entscheiden zu können, etwas zu tun oder zu lassen, sich selbst zu verwirklichen. Der größte Feind der Freiheit ist deshalb zunächst einmal die existenzielle Not.

Inzwischen aber diskutieren wir immer weniger über die Freiheit der Arbeitslosen und Niedriglöhner, der Häftlinge und Zwangspsychiatrisierten. Das ist absolut uncool und gestrig, fast schon eklig. Am lautesten nach mehr Freiheit schreien jene, die vergleichsweise schon die größte Freiheit haben, aber möglichst ungestört vom Staat ihren Profit maximieren wollen. Freie Fahrt für freie Bürger. Rechts überholen und links einscheren. Das ist die Freiheit, die sie meinen.

Stefan Geiger

Open Government

Etwa 3000 Stuttgarter gestalten derzeit den zweiten Bürgerhaushalt der Stadt. Die Landesregierung geht mit einem Beteiligungsportal an den Start, in dem Gesetzesvorhaben online kommentiert werden können, und die Bundesregierung stellt auf der Homepage Govdata Verwaltungsdaten ins Netz. Dies sind nur drei Projekte der vergangenen Wochen, die sich unter dem Begriff „Open Government“ summieren lassen.

Der Verwaltungsinformatiker Jörn von Lucke definiert „Open Government“ als „Sammelbegriff für vielfältige politisch-administrative Öffnungskonzepte“. In der Praxis geht es vor allem darum, Daten nicht in der Amtsstube verstauben zu lassen, sondern leicht zugänglich zu machen; Bürgern ein ernsthaftes Angebot zu machen, sich politisch einzubringen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Transparenz, Partizipation und Kooperation lauten die Stichworte. Das Internet und die weitverbreitete Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter haben den Weg für „Open Government“ bereitet, umstrittene Großprojekte wie Stuttgart 21 oder das vielfach angeführte Windrad vor dem eigenen Gartenzaun waren hierzulande die Katalysatoren.

Auf die politische Agenda gesetzt hat Barack Obama das Thema „Open Government“, indem er es gleich bei seiner Amtseinführung 2009 als Handlungsprinzip seiner Amtszeit benannt hat. Mit Datenportalen und Bürgerhaushalten sind auch in Deutschland erste Schritte in diese Richtung getan. Jetzt gilt es, diese Angebote anzunehmen und sich sinnvoll einzubringen – und nicht etwa das Verbot von lärmenden Laubsaugern zu fordern, wenn es eigentlich um den Stuttgarter Doppelhaushalt für 2014/15 geht.

Anja Treiber

Nichtregierungsorganisationen

Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 bis zum Ende des Kalten Krieges 1989 war die internationale Politik die Domäne von Staaten, die nach innen wie nach außen die Souveränität für sich reklamierten. Im Zeitalter der Globalisierung gilt das nicht mehr: Der Einfluss suprastaatlicher Akteure (etwa EU oder IWF), transnationaler Konzerne wie auch zivilgesellschaftlicher Akteure wächst. Letztere werden gemeinhin als „Nichtregierungsorganisationen“ bezeichnet – oder kurz: NGOs („Non-Governmental Organizations“).

In der Regel versteht man darunter Organisationen, die nicht nach Macht oder Profit streben, sondern durch Einflussnahme auf die öffentliche Meinung oder durch konkrete Aktionen über Staatengrenzen hinweg soziale, ökologische oder humanitäre Anliegen vertreten. Manche Autoren sehen in den christlichen Orden des Mittelalters den historischen Prototyp der NGOs; als erste moderne Nichtregierungsorganisationen gelten die 1823 gegründete Foreign Anti-Slavery Society (Antisklaverei-Gesellschaft) und das Rote Kreuz (1863).

Zu den bekanntesten NGOs der Gegenwart zählen Greenpeace, Amnesty International und Attac. Kritiker bemängeln, dass viele Nichtregierungsorganisationen einen großen moralischen Anspruch geltend machen, dabei aber über kaum demokratische Legitimation verfügen. Dies gilt aber generell für alle transnationalen Akteure – und das, obwohl deren Entscheidungen zunehmend unsere Lebenswirklichkeit beeinflussen.

Insofern stellen NGOs eine Möglichkeit dar, sich zu engagieren, um so denjenigen Anliegen Gehör zu verschaffen, die einem selbst wichtig sind, ansonsten aber im politischen Diskurs nur eine marginale Rolle spielen.

Daniel Hackbarth

Machtwechsel

Wer in einer Demokratie regiert, hat Macht. Wohlgemerkt: Macht auf Zeit, denn schon bei der nächsten Wahl können die heute Herrschenden in die Opposition geschickt werden. In Baden-Württemberg hat das allerdings einige Wahlen länger gedauert als in den meisten anderen Bundesländern. Fast sechzig Jahre hatte die CDU das Sagen – und wie dringend notwendig die Abwahl dieser Staatspartei war, zeigte sich nicht zuletzt an den Skandalen,die danach aufgedeckt werden konnten.Wäre die alte Regierung noch am Ruder, wüssten wir heute – um ein Beispiel zu nennen – mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen Bruchteil all der Ungeheuerlichkeiten, die sich im Umfeld des EnBW-Deals abgespielt haben. Von Zeit zu Zeit muss man das Haus also gründlich ausmisten, durchlüften und putzen. Diesen reinigenden Vorgang, auf die Seele des Menschen bezogen, nannten die Griechen Katharsis. Auf die innere Verfassung eines Staates bezogen, nennen wir ihn schlicht: Machtwechsel.

Roland Müller

Multitude

Stärke durch Geschlossenheit? Das gilt allenfalls kurzfristig, denn ein Kollektiv, das es schafft, das Abweichende und Unangepasste zu integrieren, wird sich langfristig nicht nur als das schlagkräftigere und kreativere, sondern vor allem auch als das demokratischere erweisen. So jedenfalls argumentieren die beiden Philosophen Antonio Negri und Michael Hardt, die vor mehr als zehn Jahren mit „Empire“ einen Theoriebestseller landeten. Hardt/Negri verweisen darauf, dass das traditionelle politische Vokabular durchsetzt sei von Begriffen, die auf Einförmigkeit setzen – man denke an das „Volk“ oder die „Arbeiterklasse“. Platz für Nonkonformität lassen diese Konzepte nicht, weshalb sie auch tendenziell autoritär seien. Hardt/Negris Gegenentwurf geht auf den von dem niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza bereits im 16. Jahrhundert ins Spielgebrachten Begriff der „multitudo“ („Menge“) zurück. Die heutige globale „Multitude“ sei so im Begriff, das zu realisieren, was vor 350 Jahren angedacht wurde, ideengeschichtlich aberkeine weitere Beachtung fand. Die Globalisierungskritiker oder Occupy-Aktivisten mit ihren horizontalen, netzwerkartigen Organisationsformen geben Hardt/Negrif zufolge ein Vorgeschmack davon, wie eine globale Demokratie im Zeitalter nach der digitalen Revolution vielleicht einmal aussehen könnte.

Daniel Hackbarth

Gleichheit

Die Menschen sind nicht gleich. Sie sind verschieden: klug oder dumm, frech oder bescheiden, gut oder böse. Die Frauen wurden nichtzu Männern, als sie das Wahlrecht zugestanden bekamen. Dennoch gehört die Gleichheit,dieses Kind der Aufklärung, zu den elementaren Postulaten entwickelter Demokratien. Die so verschiedenen Menschen sollen wenigstens vor dem Gesetz gleich sein, gleiche Rechte und Pflichten haben. One man, one vote. Im Wahlrecht ist das ganz selbstverständlich, überall dort, wo es um den Einfluss des Einzelnen auf die Gesellschaft und den Staat geht. Natürlich stimmt es aber dort nicht, wo es – umgekehrt – um den Umgang der Gesellschaft mit demEinzelnen geht. Es wäre furchtbar. Der Millionär hat keinen Anspruch auf Hartz IV; die Progression, also die ungleiche Besteuerung, ist eine Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaftinsgesamt sich ihrem Ideal der Gleichheit ein bisschen annähern kann. Ungleichbehandlung ist also die Bedingung für mehr Chancengleichheit. Was aber ist mit all denen, die ihre Chancen nicht nutzen, weil sie zu träge sind oder aberzu schwach, zu wenig gewitzt? Die Forderung allein nach Gleichheit, selbst nach der Chancengleichheit, kann zutiefst ungerecht sein,wie wir gerade in der Krise sehen. Sie mussgestützt und ergänzt werden durch die Brüderlichkeit. Davon später.

Stefan Geiger

Protestpartei

Ob mit dem Wetter, der Eurorettung oder dem Regierungskurs: manchmal kann man das Gefühl bekommen, wir Deutschen seien mit großer Lust unzufrieden. Dort, wo der Unmut politisch motiviert ist, mündet er in die Gründung sogenannter Protestparteien. Ihr Sinn und Zweck ist, das Gefühl diffuser politischer Unzufriedenheit zu bündeln, richte sie sich nun gegen Politisches im Speziellen oder Politik im Allgemeinen. Allein: die meisten mit viel Euphorie vorgenommenen Neugründungen beleben nur für kurze Zeit die Parteienlandschaft, dann fallen sie wie Hefeteig in sich zusammen. Zumindest in Deutschland, wo etwa die Hamburger Schill-Partei schnell wieder verschwand, sich derzeit die Piraten selbst zerlegen und die eurokritische Alternative für Deutschland ... Nun ja,da heißt es abwarten bis zur Wahl. Bis jetzt jedenfalls hat es in Deutschland nur eine Neugruppierung langfristig ins politische Spektrum geschafft: die Grünen. Warum? Anders als bei den meisten Protestparteien lag ihrer Gründung kein diffuses Unzufriedenheitsgefühlzugrunde, sondern das präzise Gespür für eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie: Ökologie versus Ökonomie. Und dieser Konflikt lässtsich bis auf den heutigen Tag mit ein bisschen Protestzahnknirschen eben nicht aus der Welt schaffen.

Sabine Fischer

Liquid Democracy

Alle vier Jahre das gleiche Prozedere: hat der Wahlberechtigte seine zwei Kreuzchen auf dem Wahlzettel gesetzt, kann er für vier Jahre wieder die Füße hochlegen. Denn im repräsentativen System haben dann die Berufspolitiker das Wort. Die Piratenpartei setzt dem das Prinzip der „Liquid Democracy“ entgegen. Der Begriff steht für die Verflüssigung starrer Begrenzungen, schreibt „Liquid Democracy e. V.“. Das Internet und die Software „Liquid Feedback“ sollen es möglich machen. Feste Wahlperioden sollen aufgehoben werden; Bürger sollen konkret über einzelne Gesetze statt über Komplettlösungen, also über die Wahlprogramme der Parteien, entscheiden können, und sie sollen an der Entstehung der Gesetzestexte mitwirken können. Wenn sich ein Wähler diese Entscheidungen selbst nicht zutraut oder er sich nicht mühsam in die Materie einlesen möchte, kann er seine Stimme für jede einzelne Abstimmung nach dem Prinzip des „Delegated Voting“ auf einen anderen ihm Vertrauten übertragen, der dann mit einer weiteren Stimme im Rücken diese Entscheidung trifft. Es entsteht ein flexibles System aus ständig wechselnden Mehrheiten. Diese Flexibilität klingt gut, birgt aber auch Gefahren: Weil die Delegierte ihre Stimmen ebenfalls weitergeben können, könnten am Ende einer langen Reihe von Stimmübertragungen sehr wenige Superdelegierte stehen. Außerdem kann Liquid Democracy auch Populisten den Weg ebnen. Ganz zu schweigen, welche Auswirkungen ein solch fließendes System auf Institutionen wie den Bundestag hätte. Auch die Piraten wissen um diese Bedenken. Sie beschreiben Liquid Democracy als Experiment, das auch in anderen Kontexten denkbar wäre. Es muss nicht gleich das große Ganze sein. Warum nicht beispielsweise die Meinungsbildung innerhalb eines Vereins so organisieren.

Anja Treiber

Istanbul 21

Stuttgart ist nicht Istanbul, auch wenn sich die Bilder gleichen: Mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern geht die Polizei gegen friedliche Demonstranten vor, die einen Park schützen wollen. Anfangs sind es nur wenige Menschen, die sich um die von einem Großprojekt gefährdeten Bäume sorgen, doch im Lauf der Zeit werden es immer mehr, bis sich am Ende hunderttausend Menschen auf Straßen und Plätzen versammeln. Sie kommen aus allen sozialen Milieus, sie sind Studenten und Arbeiter, Angestellte und Beamte, sie sind jung und alt, arm und reich – und auch Hausfrauen bringen sich zu Gehör und schlagen am offenen Fenster auf Töpfe und Pfannen. All diese Menschen weiten nach und nach ihren Protest aus und kämpfen schließlich nicht mehr nur für ihren Park im Herzen der Stadt, sondern auch gegen die Arroganz der Macht, die glaubt,die Menschen auf der Straße diffamieren und kriminalisieren zu können. Mit Hochachtung blicken wir in diesen Tagen auf den immer wieder umkämpften Taksim-Platz. Was wir dort sehen, sind Wutbürger – und dass der Stuttgarter Schlossgarten nicht der Istanbuler Gezi-Park ist, erkennt man auch daran, dass die deutschen Leitmedien diese aufmüpfigen Bürger jetzt nicht schmähen, sondern feiern. Türke in Resistanbul sollte man sein. Dann wäre man als Wutbürger neuerdings everybody’s darling.

Roland Müller

Netzneutralität

Das Internet ist eine gewaltige Autobahn,auf der große und kleine Datenpakete um die ganze Welt geschickt werden. Mehr als zwei Milliarden Menschen sind im Netz unterwegs, senden E-Mails, laden Filme herunter oder chatten mit Freunden. Bislang ist es so, dass all diese Daten – in den meisten Fällen jedenfalls – ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Inhalts gleichberechtigt transportiert werden. Das bezeichnen Experten als Netzneutralität. Sie ist eines der Kernprinzipien des World-Wide-Web. Mit der Ankündigung der Telekom, ab 2016 für Neukunden eine Volumenbegrenzung beim Datenverkehr durchzusetzen, hat das Unternehmen einen empfindlichen Nerv getroffen. Denn das Kommunikationsunternehmen will seine eigenen Angebote wie denVideodienst „Entertain“ von der Drosselung ausnehmen. Das Ergebnis wären bevorzugte und benachteiligte Datenpakete. Die Netzneutralität wäre dahin. Der Chef der Telekom, René Obermann, begründet den Vorstoß gegenüber der „Zeit“ mit „explodierenden Datenmengen“. Unter dem Stichwort „Drosselkom“ laufen Netzaktivisten seither Sturm. Die Petition des Studenten Johannes Scheller haben mehr als 70 000 Personen unterschrieben.Sie fordert, dass die Netzneutralität gesetzlich festgeschrieben wird. Am Montag wurde Scheller im Petitionsausschuss gehört.

Anja Treiber

Brüderlichkeit

Es ist der Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems: Wir lieben die friedfertigen, toleranten, hilfsbereiten und zur Versöhnung fähigen Menschen. Wir heben all die Albert Schweitzers dieser Welt in unseren Sonntagsreden gen Himmel. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Gnade, Brüderlichkeit zu erfahren,ein Stück Lebensqualität für jeden von uns ist. Wir erziehen unsere Kinder nach diesen Werten. Die Kirchen lehren diese Prinzipien seit Jahrhunderten. Die Aufklärung, auf die wir so stolz sind, basiert auf der Brüderlichkeit, die längst Solidarität genannt wird. Und doch verachten wir die Brüderlichkeit. Im Alltag, vor allem dann, wenn es ums Geld geht, um unser Geld. In der Berufswelt mehr denn je. Wir haben längst verinnerlicht, dass allein der Egoismus, man könnte auch sagen: die Ausbeutung der anderen, zum wirtschaftlichen Erfolg führt. Und dass die Vertreter der Brüderlichkeit nur nützliche Idioten sind. Und dann wundern wir uns noch, dass immer mehr Menschen aufder Welt das westliche Demokratiemodell nicht mehr attraktiv finden und sich von uns abwenden. So was kommt von so was.

Stefan Geiger

Technokratie

Es könnte so einfach sein: Man löse den Bundestag auf, spare damit Unsummen an Abgeordnetendiäten und setze stattdessen ein Gremium von vielleicht fünfzig Experten ein, die die Geschicke des Staates in die Hand nehmen. Parteiengezänk, gebrochene Wahlversprechen und inkompetente Parlamentarier wären Vergangenheit. In einer solchen Technokratie hätten das Ruder stattdessen Fachleute in der Hand, die über das nötige ökonomische Fachwissen verfügen, um das Land in eine strahlende Zukunft zu führen. Ein solcher Vorschlag mag für manche plausibel klingen, neu ist er nicht. Schon der antike Denker Platon forderte, dass in einem idealen Staat Philosophen Könige sein müssten – wobei er unter „Philosophen“ in etwa das verstand, was man heute als „Experten“ bezeichnen würde, also Menschen, die dadurch definiert sind, über wahres Wissen zu verfügen. Nur, wer entscheidet darüber, was wahr oder falsch ist? Ein Blick auf den universitären Betrieb macht schnell deutlich, dass jede Wissenschaft gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass bei ein und demselben Problem widerstreitende Positionen miteinander konkurrieren. Das gilt gerade auch für die Wirtschaftswissenschaften, was man leicht vergessen kann, weil hierzulande eine Schule – die Angebotstheorie – praktisch ein Monopol innehat. International sieht das anders aus, weshalb Merkels Austeritätspolitik von manch prominentem US-Ökonomen kritisiert wird. Letztlich geht es hier immer auch um politische Auseinandersetzungen, an deren Ende Gewinner undVerlierer stehen; keine Wissenschaft und kein Experte kann da einen neutralen, über denVerhältnissen schwebenden Standpunkt für sich reklamieren.

Daniel Hackbarth

Menschenwürde

Menschenwürde ist ein großes Wort. Im Grundgesetz steht sie ganz vorne. Dabei wissen wir oft nicht so genau, was die Würde eines Menschen ausmacht. Und es ist im Alltag ja auch nicht so ganz einfach, ihren besonderen Schutz als unveräußerliches Grundrecht einem Massenmörder zuzugestehen oder auch nur einem in der Gosse liegenden Säufer. Würde, auch Menschenwürde, wird denen zugestanden, die sie sich leisten können, jedenfalls den äußeren Schein davon, weil sie im Lichte stehen. Sie können ihre Würde, oder das, was sie dafür halten, auch verteidigen, oft genug mit Hilfe von Winkeladvokaten. Die Menschenwürde eines Gustl Mollath, der nun schon seit Jahren fahrlässig in der Psychiatrie gehalten wird, war antastbar. Er wird es, wenn er denn freikommt, allein deshalb schon schwer haben, nicht nur ein straffreies, sondern ein Leben in Würde zu führen. Antastbar ist die Würde des Menschen aber nicht nur von Staats wegen, sondern auch in zerbrechenden Beziehungen – und vor allem im Arbeitsalltag: Je schwächer der Mensch ist, der mit seiner Arbeitskraft bezahlt, desto eher. Aber eine verbriefte Hoffnung ist er schon, dieser Artikel 1 unseres guten Grundgesetzes.

Stefan Geiger

#BTW13

Dieser Buchstaben- und Zahlensalat steht für die Bundestagswahlen 2013. Es ist ein Schlagwort, ein sogenanntes Hashtag, mit dem die Mitglieder des sozialen Netzwerks Twitter ihre Nachrichten versehen, damit die Tweets zu einem bestimmten Thema leichter zu finden sind. Wer sich für die Wahl am 22. September interessiert, sucht also im Kurznachrichtendienst nach #BTW13 – und wird fündig. In der Liste von Tweets finden sich neben Privatpersonen und Medien auch viele Politiker, die den Dienst nutzen, um ihre Botschaften unters digitale Volk zu bringen. Besonders rege: der Umweltminister Peter Altmaier (CDU). Die Bundestagswahlen werden mithin die ersten ihrer Art sein, in denen die sozialen Medien eine derart wichtige Rolle spielen. US-Präsident Barack Obama hat es seinen deutschen Kollegen im November 2012 ja vorgemacht. Kurz nach seiner Wiederwahl twitterte er ein Foto, auf dem er in den Armen seiner Frau Michelle liegt. Dazu schrieb er: „Four more years.“ Mehr nicht. Dieser Tweet rauschte in wenigen Sekunden zigtausende Male um die Welt, einigeMedien griffen das Foto auf und veröffentlichten es an prominenter Stelle. Damit hatte Obama auf einen Schlag bewiesen, welche Wirkungsmacht das soziale Netzwerk inzwischen entfalten kann. Sein Tweet zeigte, dass Twitter kein Nischenmedium mehr ist, sondern auch den Sprung in eine breite Öffentlichkeit schaffen kann. Was Angela Merkel oder Peer Steinbrück am Abend des 22. Septembers zwitschernoder zwitschern lassen – nun ja, unsere Ohren werden gespitzt sein.

Anja Treiber

Schlichtung

Eigentlich eine feine Sache: eine Schlichtung ist die außergerichtliche Beilegung einesStreits durch einen von einer neutralen Instanz vorgeschlagenen Kompromiss. So steht esim Lexikon – und so sah es dann im Herbst 2010 und im Sommer 2011 in der Praxis aus:Im Stuttgarter Rathaus versuchte Heiner Geißler, den Streit über Stuttgart 21 zu schlichten. DasInteresse an den Veranstaltungen war enorm, Fernsehsender übertrugen die stundenlangen Sitzungen live von A bis Z. Und obwohl nur staubtrockene Themen wie Bahnhofskapazitäten und Gesteinsformationen erörtert wurden, verfolgte das Publikum die Schlichtung mit Spannung – ein neues Phänomen der Bürgergesellschaft, das professionelle Beobachter in Euphorie versetzte. Hatte die S-21-Schlichtung nicht Modellcharakter? Wurde hier nicht die Demokratie von morgen geprobt? Die Bundesrepublik als Schlichtungsrepublik, die vor Bürgervernunft und Bürgerintelligenz nur so strotzte? Nun ja, drei Jahre später ist man klüger. Weil von Geißlers Kompromissvorschlägen nur Marginales in die Tat umgesetzt wurde, hat die Schlichtung faktisch nichts gebracht, außer der Erkenntnis, dass im Rathaus nicht die neue Demokratie, sondern nur eine fortgeschrittene Form der Demokratie-Simulation eingeübt wurde. Man mag von den Parkschützern halten, was man will. Aber dass sie sich von Anfangan der Schlichtung entzogen haben, zeugt dann doch von ihrem Gespür für postdemokratische Tricks. Respekt!

Roland Müller

Feminismus

Die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Frau ist älter, als man meinen könnte. Bereits im 18. Jahrhundert traten etwa die Philosophin Mary Wollstonecraft oder der Frühsozialist Charles Fourier der Unterdrückung der Frau entgegen. Richtig Fahrt nahm die feministische Bewegung in den sechziger Jahren auf. Heute indes haftet dem Begriff etwas Altbackenes an – was verwunderlich ist, weil etwa die nach wie vor bedeutenden Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen, dass faktisch noch lange keine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht. Das große Verdienst des Feminismus liegt weniger darin, ein Abtreibungsrecht oder Frauenquoten erkämpft zu haben, als vielmehr in dem Umstand, die Geschlechterverhältnisse politisiert zu haben. Dadurch, dass Frauen gegen patriarchale Unterdrückung auf die Straße gingen und mit Lebensformen jenseits der Familie experimentierten, wurde deutlich, dass das traditionelle hierarchische Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht natur- oder gottgegeben ist, sondern auch anders gestaltet werden kann. Bestimmte Lebensbereiche dem politischen Zugriff zu entziehen, indem man sie naturalisiert, ist per se undemokratisch. Gerade dort, wo Ungleichheiten mit dem Verweis darauf legitimiert werden, dass diese „von Natur aus“ bestünden und daher unveränderlich seien, ist Ideologie im Spiel.

Daniel Hackbarth

Wahl

Ohne Wahl gibt es keine Demokratie. Uns erscheint dies selbstverständlich. Millionen von Menschen müssen das Joch autoritärer Regime ohne freie Wahlen ertragen. Das formale Wahlrecht muss freilich mit Inhalten gefüllt werden. Es verkümmert auf Dauer auch dann, wenn es an Alternativen mangelt, weil die relevanten politischen Parteien sich in ihren wesentlichen Vorstellungen und Forderungen kaum noch unterscheiden, wenn sich ein Wahlkampf auf den Wettbewerb von Medienberatern um verlockende Parolen und Schlagworte reduziert. In Deutschland gibt es ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht. Es ist eine legitime Entscheidung jedes einzelnen Bürgers, sich der Abstimmung zu verweigern. Ein kleines Warnsignal für jede Demokratie ist es, wenn die Nichtwähler zur stärksten Partei werden – so wie in Deutschland. Eine lebendige Demokratie erträgt das. Was sie nicht erträgt, ist, wenn die Wahlverweigerung zu einem Schichtenproblem wird. Bei uns ist das so. Deutschlands Reiche gehen fast alle wählen; sie versprechen sich etwas davon. Immer mehr Arme aber verweigern sich der Wahl. Sie verhalten sich so, nicht etwa weil sie unpolitisch wären, sondern weil sie von der real existierenden Politik nichts mehr erwarten. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Grundregeln der Demokratie. Das ist ein Desaster. Aber es interessiert keinen.

Stefan Geiger

Wahl-O-Mat

Umfragen belegen es: viele Deutsche haben noch keine Ahnung, wen sie am 22. September wählen sollen. Doch Hilfe naht. Am Donnerstag soll der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung freigeschaltet werden. Bei der vergangenen Bundestagswahl wurde der Wahl-O-Mat mehr als 6,7 Millionen Mal durchgeklickt. Seit mehr als zehn Jahren gibt es dieses Instrument inzwischen schon. Das interaktive Tool fragt die politischen Überzeugungen des Nutzers zu 38 Thesen ab – und vergleicht dessen Standpunkte mit denen der Parteien. Diese haben vorher selbst bestimmt, ob sie den Thesen jeweils „zustimmen“, „nicht zustimmen“ oder „neutral“ gegenüberstehen. An der Erstellung beteiligen sich laut Bundeszentrale für politische Bildung politisch interessierte Jung- und Erstwähler. Am Ende zeigt der Wahl-O-Mat dem Nutzer, mit welcher Partei seine Schnittmenge am größten ist. Manchmal kommt der Automatismus auch zu absurden Ergebnissen. Das kann witzig sein. Problematisch wird es aber, wenn Nutzer den Wahl-O-Mat nicht als eine von vielen Entscheidungshilfen verstehen, sondern ihn blind als Entscheidungsgenerator nutzen, ohne das Ergebnis selbst zu hinterfragen. Das Tool speist sich nämlich aus den Versprechungen der Parteien. „Grundlage für die Thesen sind Partei- und Wahlprogramme sowie programmatische Aussagen“, heißt es auf der Homepage der Bundeszentrale. Populistische Parteien haben dabei oftmals leichtes Spiel

Anja Treiber

Verschwendung

Jetzt also der Bischof. Die Limburger Residenz des Franz-Peter Tebartz-van Elst wird nicht, wie geplant, fünf Millionen Euro kosten, sondern über dreißig Millionen. Respekt! Diese Explosion kriegt nicht einmal die Bahn hin. Bei Stuttgart 21 hat sich der Preis „nur“ etwas mehr als verdoppelt, von drei Milliarden 2009 auf 6,5 Milliarden 2013. „Das Projekt würden wir heute so nicht mehr beginnen“, sagte der Bahn-Chef, als diese Zahl zusammen mit dem Umstand bekannt wurde, dass ein Weiterbau nur um 77 Millionen Euro günstiger wäre als ein Ausstieg. Freilich ahnt der gesunde Menschenverstand, dass diese 77 Millionen im Nu aufgefressen sein werden. Warum buddelt man trotzdem weiter? Abgesehen davon, dass einige Leute dabei Reibach machen, gibt es auch einen psychologischen Grund, mit dessen Hilfe die Projektbefürworter immerhin die Volksabstimmung gewonnen haben: Nachdem schon so viel Geld investiert worden sei, gebe es kein Zurück mehr, sonst wären die bereits getätigten Investitionen ja verloren, so die Argumentation, die völlig verkennt, dass mit dem Weiterbau noch mehr Geld verschwendet wird. Psychologen sehen in diesem Festhalten an ausufernden Projekten den „Effekt der versunkenen Kosten“ am Werk. Ihre Gegenstrategie: Personalwechsel. Die neuen Manager seien zwar nicht unbedingt besser als die alten,hängen aber nicht so sehr an dem Vorhaben und würden deshalb weniger vom tückischen Kosten-Effekt heimgesucht werden – so viel zum verantwortlichen Umgang mit Geldern, sei’s in der Kirche, sei’s bei der Bahn. rm

Roland Müller 

Stadteroberung

Wem gehört die Stadt? Den Menschen, die darin wohnen? Den Investoren, die darin bauen? Den Autos, die darin fahren? Diese Fragen sind in den vergangenen Jahren auf der halben Welt gestellt worden, von San Francisco bis Istanbul, von New York bis Stuttgart. Eine der sympathischsten Antworten darauf lautet „Shared Space“, was auf Deutsch so viel wie „gemeinsam genutzter Raum“ heißt. Dahinter steckt die Idee, dass der für ein demokratisches Zusammenleben grundlegende Anspruch auf Gleichberechtigung auch für einen Sektor gelten sollte, der bisher streng hierarchisch geordnet war: den Stadtverkehr. Bisher dominierten die Autofahrer, nun aber wird ein Raum geschaffen, der allen die gleichen Rechte einräumt. Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer bewegen sich – im Idealfall – in schöner Eintracht durch den von keinerlei Schildern, Signalanlagen und Fahrbahnmarkierungen reglementierten Shared Space. Jeder muss im entschleunigten Verkehrsgeschehen jeden beachten und mithin als Partner auch jederzeit achten – und das ist nicht nur eine treffende Metapher für eine demokratische Stadt, sondern auch ein handfestes Modell für ein Miteinander, das nachweislich die Zahl der Unfälle reduziert. Auch Stuttgart hat seine „Mischverkehrsfläche“: in der Tübinger Straße, im Herzen der Stadt.rm

Roland Müller

Parteien

„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ So steht es im Grundgesetz – mehr nicht. Natürlich reicht ihre Macht längst viel weiter. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat vor vielen Jahren einmal behauptet, die Parteien hätten den Staat zu ihrer Beute gemacht. Spätestens seit den großen Bankenskandalen und der folgenden Finanzkrisewissen wir, dass andere diese Beute den Parteien wieder entrissen haben. Die Politiker und mit ihnen die Parteien sind zu Getriebenen der Finanzmärkte geworden. Wir sollten dieParteien nicht zu sehr verachten. Die Bürger können, wie wir jüngst wieder erkannt haben, Parteien, die ihr Vertrauen verspielt haben,zumindest abstrafen. Das können die Bürger mit den wenigsten tun, die über sie im realen Leben Macht haben. Ja, Parteien schachern und feilschen, sie schließen Kompromisse, auch faule Kompromisse, sie brechen ihr Wort. Wir können es alles gerade wieder beobachten beim Ringen um eine neue Regierungsmehrheit. Das ist aber allemal besser als eine Macht, die zu ihrem Erhalt keines Kompromisses bedarf. Das ist Demokratie. Mehr Freiheit haben wir nicht. Der demokratische Sektor dieserGesellschaft ist ziemlich klein geworden. Auch weil die Macht der Parteien schrumpft.

Stefan Geiger