Der ehemalige CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm vermisst auf seine älteren Tage das C in seiner Partei – und gesamtgesellschaftlich überhaupt allerhand. Nicht nur den Gemeinsinn. Ein Besuch in Bonn.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Bonn - „Mutter streng katholisch, Vater lau evangelisch – so fing’s ja schon mal an“, sagt Norbert Blüm, Jahrgang 1935. Breites Grinsen unter der Brecht-Kappe. Blüm sitzt in seinem Gärtchen hinter der Wohnung in der Bonner Südstadt und wedelt Wespen weg, die sich in seinem Nacken tummeln. Zwischen den Stühlen saß er ja tatsächlich meistens: Als Schwarzer verschrien bei der IG Metall, als Roter bei der CDU. Da wie dort war er zeitig im Leben dabei, auf dem Weg vorher Messdiener, Pfadfinder und Werkzeugmacher in Rüsselsheim bei Opel, dann Germanistik- und Philosophiestudent, schließlich Äonen im Bundestag (1972-2002) – und natürlich Arbeitsminister, 16 Jahre lang. Den Blüm kennt fast noch jeder, und wenn man irgendwo den Namen fallen lässt, sagen die Leute meistens so was wie: Das war noch einer. Der Satz stimmt – und auch wieder nicht. Denn der Blüm ist noch einer. Oder besser, wieder einer geworden, und der Grund dafür hat sechs Namen: Lilian, Malou, Franka, Felize, Linus, Gilbert. Alles Enkel, die älteste ist jetzt schon 22.

 

Durch die Enkel ist Blüm vor über zehn Jahren noch einmal richtig ins Nachdenken gekommen übers Leben und über die Politik. Er schrieb damals, das war im Jahr 2006, also zwei Jahre vor der Lehman-Brothers-Pleite, ein Buch namens „Gerechtigkeit - Kritik des Homo Oeconomicus“, wie der Untertitel hieß. Es steckte viel drin in diesem kleinen Band, vor allem aber eine Abrechnung mit einem Feind, den Blüm „in den Neunzigern unterschätzt“ hatte, wie er heute weiß: der Neoliberalismus. Das nächste Buch legte noch mal einen Zahn zu, nannte sich, damit jeder gleich wusste, wo er dran war, „Aufschrei!“ und war ein Pamphlet. Strukturell vielleicht „ein bisschen wild“, wie Blüm einräumt, aber was raus musste „wider die erbarmungslose Gesellschaft“, musste raus. Und er lässt nicht nach. Unlängst hat er seine Partei daran erinnert, mit welchem Buchstaben ihr Kürzel anfängt, nämlich C. C für christlich. Blüm sagt, ihn provozierten zwei Dinge: „das Geld und der Umgang mit Flüchtlingen“. Das Geld habe sich „selbstständig gemacht“ und behandle „den Sozialstaat wie einen Putzlumpen“. Mit einem Gefüge, das zuallererst auf „Wettbewerbsfähigkeit“ setzt, kann Blüm nichts anfangen. Da schnaubt er wie ein Walross: „Soll mir mal einer erklären, welche Tugend das sein soll.“

Blüm lächselt oft hintersinnig

Was er nicht vergisst: Es gab zu Wende-Zeiten, als er sich mittendrin im Machtgefüge befand, so etwas wie „Glücksstunden der Solidarität“. Man hätte sie besser nutzen müssen und die deutsche Einheit „über Steuern zahlen sollen, nicht über Schulden. Wir hatten Angst vor dem Egoismus jedes Einzelnen, aber wahrscheinlich wären die Leut‘ über ihren Schatten gesprungen.“ Heute sieht er klarer, wer an den Schulden verdient hat: „Die Sozialhilfeempfänger sind es nicht gewesen.“

Blüm kann schon auch sarkastisch werden, wenn er überlegt, was man für eine angenehm abwaschbare Welt hinbekäme, sollte die Menschheit zur Überzeugung gelangen, sich selbst hauptsächlich aus dem Reagenzglas entwickeln zu wollen. Allerdings lächelt Blüm oft hintersinnig, wenn er schwarz sieht – und dann hat er eine Alternative im Angebot, denn „Einmischung ist Pflicht“. Den Anspruch, dass der Mensch Mensch bleiben soll, mag er nicht aufgeben. Und die Marktwirtschaft habe sogar unbedingte Vorteile in dieser Hinsicht: „Wenn wir es schaffen, dass die Bedürfnisse nach Werten, nach Glück, das nicht materiell ist, und nach Liebe nicht wegmanipuliert werden, dann wird der Unternehmer gewinnen, der nicht alle Spiele mitmacht.“

In der ersten Viertelstunde bei Norbert Blüm in Bonn ist man innerlich zwischendurch noch ein bisschen erstaunt, wie oft da jemand Begriffe in den Mund nimmt, die sich sonst in der Politik keiner mehr so ohne weiteres zu gebrauchen trauen würde. Später dann nicht mehr. Wenn er „Liebe“ sage, ergänzt Blüm, meine er das gar nicht unbedingt romantisch, sondern eher praktisch: Aus einer „Ansammlungen von Ichlingen, die mit sich selber so zufrieden sind, dass sie keine menschliche Ergänzung brauchen“, könne man keinen Staat machen. Dass die AfD mit Begriffen wie Treue und Vertrauen ein gefährliches Spiel betreibt, ist Blüm bewusst. Die „nationalistische Partei“ inhaltlich zu stellen, hält er indes für nicht weiter schwer: Welche Frage, sagt Blüm, ließe sich denn wohl noch national lösen? Finanzkrise? Klima? Terrorismus? Manchmal wünscht er sich, obwohl grundsätzlich weiß Gott nicht vergangenheitsselig, die Debatten von früher zurück, als Herbert Wehner den CDU-Oppositionsführer Rainer Candidus Barzel, „der schön reden konnte, zu schön manchmal“ (Blüm), trocken den Satz „Alle tausend Worte: Ölwechsel!“ vom Parlamentsparkett aus in die Ansprache montierte. Globalen Herausforderungen sei der Nationalstaat nicht gewachsen, findet Blüm, sondern vielmehr die „Krankheit einer irregeleiteten Liebe“.

Als Angela Merkel stehen blieb

Zu einer nichtchristlichen CDU/CSU, wie sie vor allem sein ehemaliger Staatssekretär Horst Seehofer in Bayern und jetzt in Berlin in der Flüchtlingsfrage verkörpere, hielte Blüm deutlich auf Abstand. Auch hier hat er einen halben Witz auf Lager – „wenn die CSU in Ägypten regiert hätte, gäbe es keine (heilige) Flüchtlingsfamilie“ – meint es aber eigentlich bitter ernst. Blüm, der nicht nur mit seinem Lieblingsphilosophen Plato gerne über den parteipolitischen Tellerrand hinausschaut, verweist in diesen Zusammenhang auf den Niedergang der Democrazia Christiana in Italien. Sie hat sich Schritt für Schritt von Grundsätzen getrennt und ist heute in einer Art und Weise marginalisiert, die er seiner eigenen Partei, aber auch der SPD nicht wünschen möchte. Insofern hat Angela Merkel mehr als seinen Respekt, „wie sie da stehen geblieben ist, als alle anderen einknickten“. Blüm war in etlichen Auffanglagern. Es kann ihm keiner groß was erzählen.

Es könnte ihm aber auch kaum einer etwas erzählen, denn viele Dauergäste in der Wirklichkeit hat das politische Raumschiff Berlin nun mal nicht, was Blüm für einen schweren Fehler hält. Es habe dem Bundestag nicht schlecht getan, dass da früher auch Nichtakademiker saßen und Leute, die schon mal richtig hatten anpacken müssen. Es klinge vielleicht „ein bisschen proletarisch“ gibt er zu, aber es würde „dem Chefarzt vielleicht ganz gut tun, wenn er vorher mal jemandem den Arsch abgeputzt hätte“. Insofern plädiert er dafür, dass jemand entdecken könne: „Helfen macht Spaß!“ – und folglich für ein verbindliches Pflichtjahr im sozialen Bereich. Das sei, sagt Blüm, aus seiner Sicht nur logisch, wenn man das Ideal der Gemeinschaft pflegen wolle. Darüber (und über den Erfinder des Gedankens, dass es ohne sie nicht geht, Ferdinand Tönnies) hat Blüm einmal promoviert, und das hat er nicht vergessen.

Beim Thema Rente bleibt Blüm Fachmann

Was die Rente anbetrifft, bleibt Blüm wohl bis ans Lebensende Fachmann und hat das selbstverständlich seinem abermillionenfach zitierten Satz zu verdanken, demnach die Rente „sicher“ sei. Ist sie’s? Die Bundeskanzlerin hat gerade die Forderung des Finanzministers Olaf Scholz zurückgewiesen, das Rentenniveau müsse bis zum Jahr 2040 zu halten sein. Blüm schlägt sich eher auf Scholz‘ Seite, „allerdings mit der deutliche Kritik, man könne nicht gleichzeitig die Beitragshöchstgrenze festsetzen. Das sei eine Lebenslüge“. Wer an der Schraube zu sehr drehe, übergebe die Rentenversicherung „schleichend der Staatsvorsorge“.

Weggefährten, die er vermisst? Heiner Geißler, ja, den schon, sagt Blüm. Zum letzten Mal gesehen haben sie sich, als Helmut Kohl beerdigt wurde. „Am Grab“, fand Blüm, „hört alle Feindschaft auf“, und so hat er es auch zu Heiner Geißler gesagt, der erst nicht hinwollte. Dann haben sie Abschied genommen von einem Mann und einer Zeit, über die es Norbert Blüm im Denken hinaus geschafft hat. „Nur die militärischen Übungen sparen wir uns“, hat Blüm damals in Speyer gesagt. So gingen sie einigermaßen in Frieden.