Nach einem Unfall auf einer Baustelle der Zeugen Jehovas in Öhringen sitzt eine Frau im Rollstuhl. Ihre Krankenkasse klagt auf Schadenersatz. Das Problem: es ist nicht klar, welchen rechtlichen Status die Zeugen Jehovas eigentlich haben.

Öhringen - Am 26. März haben Zeugen Jehovas weltweit des Todes Jesu gedacht, der sich ihrem Glauben zufolge zum 1980. Mal jährt. Für die sogenannte Gedächtnismahlfeier ist der Königreichssaal in Öhringen zu klein. Die örtlichen Versammlungen Öhringen (111 Mitglieder) und Bretzfeld (90 Mitglieder) sind in die Kultura-Festhalle der Stadt ausgewichen.

 

„An der Lehmgrube“ am Rande eines Industriegebiets stehen die üblichen Zweckbauten: eine Firma für Dentaltechnik, ein Autohaus, ein Metall verarbeitender Betrieb. Der 1994 fertiggestellte Königreichssaal der Öhringer Zeugen Jehovas ist dagegen ein schmuckes Gebäude mit sorgfältig gestutzten Hecken und einem großzügig überdachten Eingang. Dominik Paulisch (33), von Beruf Vertriebstrainer und Mitglied der Ältestenschaft, empfängt uns mit einer Überraschung. Aus Frankfurt angereist ist Benjamin Menne (52), Mitglied der Rechtsabteilung der Zeugen Jehovas. Dabei hätte Paulisch eigentlich keine Unterstützung von der Zentrale nötig. „Aus unserer Sicht hat die Sache wenig mit unserer Gemeinde zu tun“, sagt er. „Die Sache“ ist ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe von Mitte März.

Die Baustelle soll nicht richtig abgesichert gewesen sein

Zur Vorgeschichte: Im Oktober 2003 hatte sich eine Frau bei Bauarbeiten im Königreichssaal des Öhringer Vereins der Zeugen Jehovas so schwer verletzt, dass sie seither querschnittsgelähmt ist. Daraufhin hatte die Betriebskrankenkasse der Frau von dem Verein Schadenersatz in Höhe von 120 000 Euro verlangt, weil er die Baustelle nicht richtig abgesichert habe. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart wies die Klage als unzulässig ab mit der Begründung, dass der beklagte Verein zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Dezember 2010 rechtlich nicht mehr existiert habe.

Zwischen dem Unfall 2003 und der Klage 2010 hatte sich nämlich der Status der Vereinigung geändert, von der die meisten nicht mehr wissen als dass die Mitglieder mit dem „Wachturm“ missionieren und es ablehnen, Blutkonserven verabreicht zu bekommen. Am 13. Juni 2006 hatte Berlin als erstes Bundesland „Jehovas Zeugen in Deutschland e. V.“ nach einer 15 Jahre währenden juristischen Auseinandersetzung den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen.

Fast alle Bundesländer haben die Zeugen Jehovas aufgewertet

Als solche müssen die Zeugen Jehovas weniger Steuern und Verwaltungsgebühren zahlen, sie genießen die gleichen Rechte wie die katholische und die evangelische Kirche. Sie könnten Kirchensteuer erheben (was sie nicht tun, sie finanzieren sich aus Spenden) und in Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sitzen. Den privilegierten Status für die Zeugen Jehovas haben bis heute nur drei Bundesländern abgelehnt – unter ihnen Baden-Württemberg. Die Klage der Zeugen Jehovas gegen die Entscheidung ist eingereicht, derzeit ruht das Verfahren.

Nach dem Berliner Urteil von 2006 hatte der deutsche Zweig der Glaubensgemeinschaft eine Übergangsregelung erlassen und im Jahr 2009 klargestellt, dass die „religionsrechtlich selbstständigen Gliederungen grundsätzlich nicht über eine eigene Rechtspersönlichkeit im staatlichen Recht verfügen“. Die Folge: Am 12. Dezember 2007 wurde die Öhringer Versammlung der Zeugen Jehovas aus dem Vereinsregister gelöscht.

Jetzt muss das OLG Stuttgart wieder entscheiden

Der Verein existiert doch noch, urteilte jetzt in der Sache der BGH: Die Regelungen über die Eingliederung der örtlichen Zeugen-Jehovas-Vereine in die Körperschaft seien „unwirksam“. Das von der öffentlich-rechtlichen Körperschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland“ erlassene Kirchengesetz sei nicht ausreichend klar. Daher sei die eigenständige rechtliche Existenz des Öhringer Vereins „nicht beendet“. Der Verein existiere noch und könne daher auch verklagt werden. Das OLG Stuttgart muss nun erneut entscheiden, ob die Schadenersatzansprüche berechtigt sind. Experten rechnen damit, dass das Verfahren nicht vor Herbst dieses Jahres eröffnet wird.

Paulisch und Menne sehen dem gelassen entgegen – ganz nach dem Jahresmotto der Religionsgemeinschaft, das im Königreichssaal auf einer Plexiglasscheibe geschrieben steht: „Sei mutig und stark, ... den Jehova, dein Gott, ist mit dir“ (Josua). Paulisch weist ausdrücklich darauf hin, dass der Verein „aufgelöst“ sei, keine Mitglieder und kein Vermögen habe. Man werde erst einmal die schriftliche Urteilsbegründung des BGH abwarten.

Angesichts des Rechtsstreits scheint die Betroffene aus dem Fokus zu geraten. Das Schicksal der Frau sei bedauernswert, versichert Paulisch. Sie sei aber bestmöglich versorgt und die Versammlung gewähre dem „aktiven Mitglied der Gemeinde und ihrer Familie“ jede Unterstützung. „Sie ist auf Hilfe angewiesen, die sie gerne annimmt, und sie ist voll integriert“, sagt 33-Jährige. Dank einer Rampe könne die Querschnittsgelähmte im Rollstuhl auf die Bühne gelangen und als „vollwertiges Mitglied der Gemeinde“ an den Feiern teilnehmen. „Wir helfen einander“, sagt Menne.