Rainer Köpf, evangelischer Pfarrer im Remstal, hat eine Martin-Luther-Weinprobe kreiert. Die kommt so gut an, dass er allein dieses Jahr 50-mal in die Rolle des Reformators schlüpft.

Weinstadt - Das Brot stärkt des Menschen Herz, der Wein aber macht ihn fröhlich“, soll Martin Luther vor 481 Jahren anlässlich der Hochzeit seiner Nichte gesagt haben. In Beutelsbach braucht es für die Fröhlichkeit keinen Alkohol: Gelächter und Gesprächsfetzen hallen durch das Gewölbe, noch bevor die ersten Gläser gefüllt sind.

 

200 Gäste sind zur Luther-Weinprobe in den Stiftskeller gekommen, um – ja, um was? Um mehr über den großen Reformator zu erfahren, dessen berühmter Thesenanschlag ein Jahr lang mit einem ganzen Reigen an Veranstaltungen gefeiert wird? Oder doch eher, um einen geselligen Abend zu verbringen? Auf den ersten Blick sieht es nach Letzterem aus. Bis der Tischkanon gesungen wird. „Lobet und preiset ihr Völker den Herrn“ schallt es lautstark durch den Keller. Von einer solchen Stimmgewalt kann mancher Pfarrer sonntags in der Kirche nur träumen. „Das ist halt Beutelsbach“, flüstert eine Tischnachbarin.

Diese Cuvée aus Frömmigkeit und Feierlaune hätte Martin Luther vermutlich geschmeckt. Denn bei all seinem Grübeln und Hadern war er bekanntermaßen ein geselliger Mensch, ein Genießer, für den der Schöpfer selbst bei einer Weinprobe präsent war. „Wenn Gott gute, große Hechte und guten Rheinwein erschaffen darf, dann darf ich sie wohl auch essen und trinken.“ Auch dieses Zitat stammt von Luther. „Ich habe von ihm gelernt, dass Fröhlichkeit ein zentrales Wort ist. Das ist die Freude derer, die wissen, dass der Tod besiegt ist“, sagt Rainer Köpf.

Geistlichkeit und Volkesnähe

Der evangelische Gemeindepfarrer in Beutelsbach ist an diesem Abend Gastgeber. Besser gesagt: Er spielt den Gastgeber. Doktor Martin Luther und seine Frau Käthe haben zur Weinprobe gebeten. Denn, so die Rahmengeschichte, es müssen Weine für die Hochzeit der Nichte ausgesucht werden. Vorne auf der Bühne steht er. Unverkennbar an seinem eckigen, schwarzen Hut. Am Leinenhemd, das sich über den Bauchansatz spannt, am schwarzen Talar. Nur die Brille will nicht so recht ins 16. Jahrhundert passen, und dass der Mann aus dem Thüringer Wald einen schwäbischen Zungenschlag hatte, ist auch eher unwahrscheinlich.

Manche hätten ihm schon gesagt, dass sein Aussehen etwas an Martin Luther erinnert, sagt Rainer Köpf augenzwinkernd. In Sachen Leibesfülle ist dieser Vergleich sicherlich eher boshaft. Aber Köpf bringt diese Mischung aus Geistlichkeit und Volkesnähe mit, die bei Luthers Zitaten so oft durchblitzt. Und so scheint diese Rolle wie geschaffen für den Pfarrer zu sein. Er hat sie sich und seiner Frau Mechthild , die als Katharina von Bora auftritt, auf den Leib geschrieben.

Bereits vor drei Jahren, während der Arbeit an einer Mischung aus Luther-Biografie und Reiseführer hat Rainer Köpf entdeckt, dass der Reformator nicht nur ein Bierfreund, sondern auch ein Weinliebhaber war. Einen Keller voller Fässer hatte er in Wittenberg, 600 Rebstöcke nannte er sein Eigen. Als von der Landeskirche der Aufruf kam, Ideen für das Reformationsjubiläum zu liefern, entwickelte Pfarrer Köpf seine Luther-Weinprobe. „Da ich nur 300 Meter entfernt von der Remstalkellerei wirke, lag der Gedanke nahe.“ Für ihn ist der Wein ein Werkzeug, um das Thema Luther an die Menschen zu bringen. Dafür sei die Veranstaltung besser geeignet als ein nüchterner Vortrag, meint er. Events seien nun einmal gefragt. „Da kann ich mich darüber beklagen oder als Pfarrer sehen, was die Menschen bewegt, und die Kanzeln von heute suchen“, sagt der 52-Jährige.

Leicht wie ein Riesling, schwer wie ein Merlot

Im Land der Besenwirtschaften trifft die Weinprobe offensichtlich den richtigen Nerv: Im vergangenen Jahr hat sich das Ehepaar Köpf an 20 Terminen in das Ehepaar Luther verwandelt, dieses Jahr stehen 50 Auftritte im Terminkalender. Ihre kleine Tournee wird die beiden in den kommenden Monaten nach Aalen und Stockach, Metzingen und Magstadt führen. „Und wir mussten trotzdem etliche Anfragen absagen“, sagt Mechthild Köpf. Stress sei es aber keiner, sagt ihr Mann. „Im Gegenteil: das ist ein Ausgleich.“ Einen Burn-out habe er vor etlichen Jahren gehabt, seitdem passe er auf, dass es neben der Pflicht immer auch eine Kür gebe. Die Weinproben seien eindeutig Kür.

Daran zweifelt während der drei Stunden keiner. Der Pfarrer erzählt, er singt, er schenkt aus – neben Wein auch jede Menge Wissen. Das kommt mal so leicht daher wie ein Riesling: wenn Luther mit seiner Käthe schäkert, dass er sie ja nur aus Verlegenheit geheiratet habe. Und hat mal die Schwere eines Merlots: wenn Köpf von den Selbstzweifeln des Reformators erzählt: „Manchmal denke ich, ich habe zu viel angestoßen.“ Ganz ruhig wird es da im Stiftskeller.

Rainer Köpf nutzt die Aufmerksamkeit, um den Gästen sein Vorbild näherzubringen. Schon früh hat er eine Beziehung zu Martin Luther aufgebaut. „Als Jugendlicher fand ich es einfach beeindruckend, dass da einer vor Kaiser und Reich hinsteht und für seinen Glauben eintritt.“ Auch in Luthers Aufstieg vom Handwerkersohn zum Akademiker fand sich Köpf wieder: „Eine Parallele zu meinem Leben.“ Es ist eben nicht nur das Äußere des Pfarrers, das ein wenig an Luther erinnert. Nein, der junge Student Rainer Köpf hat in Luther auch in anderer Hinsicht einen Bruder im Geiste gefunden. „Dass wir durch Gnade angenommen sind, das hat mir unheimlich viel eröffnet. Denn gerade hier in diesem Industriegürtel definiert sich zu viel über Leistung“, sagt Köpf.

Ein Schuss Calvin

Und deswegen möchte er seinen Gästen mit jedem Wein auch ein Stück vom Leben des Reformators präsentieren. Alle haben einen örtlichen Bezug zu Martin Luther. Nun gut, der Schillerwein, den die Remstalkellerei exklusiv für diese Weinprobe abgefüllt hat, schlägt ein wenig aus Reihe. Denn ins Remstal hat es der Reformator nie geschafft. „Aber den Wein gab es bereits im Mittelalter. Die Trauben wurden damals gemischt angebaut und zusammen gekeltert“, erklärt Köpf. Deswegen würde dieser Wein durchaus zur Reformation in Württemberg passen: Die sei quasi auch nicht sortenrein, denn man habe einen Schuss Calvin hinzugefügt.

Alle anderen Weine hat Rainer Köpf aber an Orten gefunden, an denen sich Luther auch tatsächlich aufgehalten hat. Aus der Nähe von Wittenberg stammt ein Spätburgunder, ausgebaut von Deutschlands nördlichstem Qualitätsweingut. Beim ersten Schnuppern steigt der unverkennbare Duft von eingelegten Gürkchen in die Nase. Und während die Gäste an dem Tropfen von der Elbe nippen, erfahren sie, was Martin Luther sauer aufgestoßen ist: Der studierte Jurist wollte mehr aus seinem Leben machen, in seiner Zeit als Mönch hat er trotz aller Selbstkasteiung keinen Frieden für seine Seele gefunden.

Der nächste Wein: ein Lagrein des Augustinerklosters Neustift. Bei seinen Ordensbrüdern in Südtirol hat Luther 1511 auf dem Rückweg von Rom übernachtet – eine Reise, die den Reformator geprägt hat. So sehr der kräftige Rotwein auch mundet, was Luther in Rom sah, schmeckte ihm gar nicht: „In der Sonne Italiens schmelzen die Gebote dahin“, sagt Köpf alias Luther.

Mit dem Weißwein ins Licht

Seinen Ärger über den Zustand der Kirche, seine daraus resultierenden Schriften führten Luther, angeklagt als Ketzer, schließlich nach Worms. Beim Reichstag 1521 musste er sich vor Kaiser und Reich für seine Lehren rechtfertigen. „Trost fand er beim Malvasier, seinem Lieblingswein“, erzählt Rainer Köpf. Damals weit verbreitet, gilt der trockene Weißwein heute als ein echter Exot. Ob der Genuss des Malvasiers ihn darin bestärkte, nicht gegen sein Gewissen zu handeln, das wird Luthers Geheimnis bleiben. Tatsache ist, dass der Reformator seine Thesen nicht widerrief.

Der Weißwein ist die letzte Probe, die Rainer Köpf ausschenkt. Ein wahrlich ungewöhnliches Ende für eine Weinprobe, doch für den Pfarrer steckt Sinn dahinter: „Von herb zu süß, von schwer zu leicht, von dunkel zu hell: Das ist wie der Weg der Christen ins Licht, in Richtung Paradies.“ Erhellend war die Weinprobe auch für die Tischnachbarin, obwohl sie mit Kirche nichts am Hut habe.

Köpf hat den richtigen Zugang gefunden – meint auch sein Beutelsbacher Amtskollege Timotheus Rölle. „Ich bin angetan von der Mischung aus Leichtigkeit und fundiertem Wissen.“ Solche Veranstaltungen würden der Kirche gut anstehen. „Ich habe ja schon wirklich viele Weinproben besucht, aber diese hier war eine besondere“, befindet Weinstadts Altoberbürgermeister Jürgen Hofer. Nicht wegen der ungewöhnlichen Weine. Undenkbar sei es früher gewesen, dass ein Pfarrer im Remstal eine Weinprobe abhalte, sagt Hofer. Dabei ist doch der Wein etwas zutiefst Christliches – wenn es nach Martin Luther geht: „Der Wein ist gesegnet und ein Zeugnis der Schrift, das Bier aber gehört zur menschlichen Überlieferung.“ Sehr zum Wohle.

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