Der fiktive Dichter und Erfinder Gottfried Niebaum hat jahrelang als Zitatenlieferant im Internet gedient. Erfunden hat ihn der Werbeprofi Rafael Yupanqui (45) aus Offenburg vor 15 Jahren. Er suchte für einen Spruch einen Autor – und erfand den Lyriker.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Offenburg - Es war ein Gag, mehr nicht. Aber er hat einmal mehr gezeigt, was im Internet alles möglich ist: Gottfried Niebaum (1841–1902), Lyriker und Erfinder, ist nicht echt, sondern erfunden. Doch seine Zitate kreisen seit 15 Jahren durch Zitatportale wie Aphorismen.de oder Berühmte-zitate.de. Niebaums angeblicher Spruch „Neue Herausforderungen erfordern neue Wege“ fand Eingang in Reden von zwei Bundestagsabgeordneten, diente etlichen Vorträgen als Motto und fungierte als Titel einer Meldung der CDU-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen über den öffentlichen Nahverkehr. Ein Braukongress, ein Radiologenkongress und ein Sägewerk bedienten sich gleichermaßen aus dem Zitatschatz, der auch weitere Sprüche enthält wie zum Beispiel: „Die Jugend dürstet nach großen Taten – wer wären wir, wenn wir sie dabei nicht unterstützten?“

 

Wer wären wir alle, wenn wir nicht ab und zu ein schönes Zitat bräuchten? Am besten von einem Dichter, das macht sich gut. So dachte auch der Werbeprofi Rafael Yupanqui (45) aus Offenburg vor 15 Jahren. Er wollte den Kunden seiner Agentur für kommunikative Zuspitzung eine neue Mitarbeiterin vorstellen, suchte für seinen Spruch einen Autor – und erfand Gottfried Niebaum. Rafael Yupanquis berühmter Namensvetter, der argentinische Sänger Atahualpa Yupanqui, hieß in Wirklichkeit übrigens Héctor Roberto Chavero.

Nie hat jemand recherchiert, ob es Gottfried Niebaum gibt

Der erfundene Dichter Gottfried Niebaum kreiste 15 Jahre lang als Fiktion durch das Internet und das reale Leben, und er ist auch heute nicht mehr auszulöschen, sogar jetzt, wo sein Schöpfer preisgegeben hat, dass es ihn real nie gab. „Nein, es hat nie jemand recherchiert, ob es Niebaum gibt“, bestätigt Yupanqui, der seine Fantasiefigur im Netz immer verfolgt hat. Einen Wikipedia-Eintrag hat er nicht angelegt, das war ihm dann doch zu heikel. „Es war auch ein Experiment, was geht und was nicht geht“, räumt Yupanqui ein. Von Fake-News oder alternativen Fakten war damals noch nicht die Rede. „Ich habe ja niemandem geschadet, und es war klar, dass die Sache mal von mir aufgedeckt wird.“

Vielleicht ist dem Erfinder des Dichters Gottfried Niebaum jetzt doch ein wenig mulmig geworden, auch wenn er es abstreitet. Denn immerhin sind die Zitate auch in Masterarbeiten und Klausuren eingegangen, allerdings meist ohne Quellennachweis. Ist das zulässig oder rechtlich fragwürdig? „Die erfundene Figur tangiert – das unterstelle ich mal – keine real existierenden Personen in ihren Rechten“, winkt der Freiburger Rechtsanwalt Hans-Albert Stechl ab. „Die Zitate sind wohl auch nirgends geklaut, sondern ebenso erfunden – damit ist kein Dritter in seinen Rechten verletzt“, sagt der Medienrechtler. Das Internetportal Aphorismen.de hat den irrealen Dichter Niebaum allerdings umgehend aus der Zitatensammlung entfernt. Betreiber Thomas Schefter weist darauf hin, dass sein Portal seit 2011 nur noch Texte nach intensiver Recherche der Quellenangabe aufnimmt. Der Niebaum-Eintrag stamme von 2005, sei also ein „Altfall“, als noch nicht so exakt gearbeitet wurde.

Die Verwendung der Zitate liegt nicht in der Macht ihrer Verbreiter

Man habe aus Erfahrungen gelernt und Fehler korrigiert. „Dann gab es Leser, die sich bei uns gemeldet und uns eine Falschmeldung vorgeworfen haben“, berichtet Schefter, der das 1997 gegründete Portal übernommen und professionalisiert hat. „Jeder schreibt von jedem ab, und dann ist es in der Welt.“ Was damit gemacht wird, liegt nicht mehr in der Macht der Verbreiter. „Es wird kopiert und geklaut, was das Zeug hält“, sagt Schefter. Er nennt Kalenderverlage, Handelsketten und Zeitungen als Beispiele. Also wird wohl auch Gottfried Niebaum weiterhin irgendwo „im Netz“ zappeln, inklusive seiner Allerweltsweisheit „Neue Herausforderungen erfordern neue Wege“. Im Grunde ist sie schon lange im Kosmos der Werbebranche präsent, nur etwas anders formuliert.

Eine Zeitungsanzeige der Deutschen Bank etwa zierte im Jahr 2002 der Spruch „Neue Ziele erfordern neue Wege“. Der Urheber war ein real existierender Marcio M. Moreira, ein brasilianischer Beraterprofi, unter anderem für Coca-Cola, Nestlé und General Motors. Erfundene Personen gab es schon viele – etwa den legendären, aber nicht existenten Bundestagsabgeordneten Jakob Maria Mierscheid, den zwei SPD-Parlamentarier 1979 aus Jux in die Welt gesetzt hatten und der angeblich immer noch irgendwo im Bundestag sitzt.