In einer gelben Telefonzelle am Postamt in Blaufelden brach für Clive Ross eine Welt zusammen. Gerade hatte ihm seine Freundin Rhoda erklärt, dass sie nicht mit ihm nach Deutschland kommen wird. Jene Frau, mit der er alles geplant hatte. Die Jugendliebe aus Irland, mit der er Erfahrung im Ausland sammeln wollte. Aus und vorbei. Da stand er nun, als begossener Pudel in einem fremden Land, dem er am liebsten gleich wieder den Rücken gekehrt hätte. „Es war furchtbar“, erinnert er sich.
Am 27. Mai 1991 war der 23-Jährige voller Hoffnung auf dem Flughafen in Stuttgart angekommen. Den Job als Lagerarbeiter im Raiffeisenmarkt hatte er sicher. Eine Perspektive für den Bauernsohn aus Irland, der den Bankrott des elterlichen Betriebs in West Cork hatte miterleben müssen. Die Zinsen waren von sechs auf 16 Prozent gestiegen, das irische Pfund nichts mehr wert. 700 Rinder mussten zum Dumpingpreis veräußert werden.
Die Familie zog 1987 nach England, Clive folgte ihr 1989 und arbeitete in einem britischen Saatgutunternehmen. Bis zu jenem Tag, als er den Entschluss fasste, mit Rhoda hinaus in die Welt zu gehen. In vielen Ländern hatte er sich beworben, doch nur im hohenlohischen Blaufelden klappte es.
„Die Blöße der Rückkehr wollte ich mir nicht geben“
Da stand er nun, mutterseelenallein und ohne ein Wort Deutsch. Wie sollte es weitergehen? Ross entschloss sich zu bleiben. „Die Blöße der Rückkehr wollte ich mir nicht geben“, sagt er heute. Er sagt es in perfektem Deutsch, mit einem leicht rollenden R. Sprachschwierigkeiten hat er keine mehr. Damals verstand ihn niemand. „Schorle“ hielt er für einen Vornamen, und wenn er die Bauern fragte, ob sie auch Englisch verstanden, bekam er keine Antwort.
Er suchte nach Iren in Deutschland oder der Schweiz. Fuhr ziellos umher und kehrte deprimiert wieder zurück. Bis zu jenem Tag, als der Blaufeldener Bäckermeister auf ihn zukam. In dessen Haus hatte er ein Zimmer, für ihn fuhr er samstags Brötchen aus, um etwas dazuzuverdienen. „Clive“, sagte der Bäcker, „du kommst jetzt mit in den Fußballverein.“
Es war wie eine Befreiung. Die Jungs liebten ihren Iren, er hatte bald einen Stammplatz. Ross ackerte wie ein Pferd, rannte sich die Lunge aus dem Leib und wurde bald liebevoll „McGuinness“ genannt. Jedes Wochenende war er auf dem Fußballplatz und nach Feierabend öfters mit den Kickern unterwegs.
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: „Trattoria Vivaldi – Der Italiener, dem die VfB-Stars vertrauen“
Auch am Arbeitsplatz lief es gut. Er kannte die Welt der Landwirte, merkte bald, „dass die Menschen in Hohenlohe die gleichen Probleme hatten wie die Bauern in Irland“. Sein Problem war noch die Sprache. Er kämpfte sich durch die Lokalzeitung, saugte begierig jedes neue Wort auf, das er dazulernen konnte.
Eines Tages sagten sie im Fußballverein erstaunt: „Der Clive spricht ja Deutsch.“ Aus einem stummen Iren war ein gesprächiger Wahl-Hohenloher geworden. Der ging nun richtig aus sich heraus und lernte beim Fasching eine deutsche Freundin kennen. Die nahm ihn zu ihren Eltern mit: Clive Ross war nun fast schon auf dem Weg zum deutschen Schwiegersohn. Auch sonst standen alle Zeichen auf Integration. Ein Kollege nahm ihn eines Tages zur Seite und sagte: „Clive, wenn du hierbleiben willst, musst du eine Ausbildung machen.“ Er wechselte den Betrieb, ging zum Bioland-Getreidevermarkter OBEG in Schrozberg und machte eine Lehre als Fachkraft für Lagerwirtschaft.
Wird wieder alles gut mit Rhoda?
Der Geschäftsführer Walter Schuch wurde zum väterlichen Freund, nahm ihn in seine Familie mit, half ihm, wo es nur ging. Die erste Klausur in der Berufsschule war ein Fiasko, er bekam eine 5,8. Bei der letzten schnitt er mit 1,2 ab. Ross erzählt das nicht ohne Stolz, schwärmt davon, wie gut er nach sechs Jahren integriert war und wie viel er erreicht hatte. „Ich war wer und hatte ein Netzwerk.“
Umso erstaunlicher ist, was danach passierte. Es begann mit der Trennung von der deutschen Freundin 1997. Im gleichen Jahr machte Clive Ross erstmals wieder Urlaub in Irland. Dabei traf er Rhoda. Sie näherten sich wieder an, merkten, wie viel sie noch immer füreinander empfanden. Clive Ross war wie elektrisiert: Vielleicht würde am Ende ja doch noch alles gut werden?
Clive und Rhoda machten Pläne. Beide waren noch im Ausland, doch sie wollten zurück in die Heimat, eine gemeinsame Zukunft auf der Grünen Insel. Clive kündigte seine Wohnung und seinen Job und kam mit Sack und Pack im Januar 1998 in Irland an. Wer wieder nicht da war, war Rhoda. Sie hatte ihn ein zweites Mal versetzt. „Wie war ich doch naiv.“
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: „Seelchens Heimat – Die fast vergessene Autorin Agnes Günther aus Langenburg“
Es fällt ihm nicht leicht, darüber zu sprechen. Und doch ist es ihm wichtig. „Aufarbeitung“ nennt er das und „Versöhnung“ mit einem Schicksal, das ihn 1998 in ein noch tieferes Loch als sechs Jahre zuvor fallen ließ. Er blieb trotzdem in Irland, zog das Studium der Lebensmittelwirtschaft am University College in Cork durch – wie er alles durchzieht, was er einmal angefangen hat. Und so wurde aus dem Halb-Hohenloher noch einmal ein ganzer Ire.
Gut ging es ihm dabei nie. Die alten Freunde, sie waren nicht mehr da. Das Gros der Familie hatte seinen Wohnsitz nach England verlegt. Und er war nur ein Student, der mit Anfang 30 mal wieder nicht wusste, wo er hingehörte. „Eine schwierige Zeit“, sagt er.
Glücklich war er nur, wenn er im Sommer für jeweils zwei Wochen bei der Ernte in Hohenlohe half. Die Kontakte hielten. Zum Glück. Und so dauerte es nach dem Abschluss des Studiums 2002 in Cork auch nicht lange, bis für ihn feststand: „Ich kehre zurück!“ Dorthin, wo er sich schon lange viel heimischer fühlte als in seiner alten Heimat. Wo die Freunde waren, das Arbeitsumfeld, das er zu schätzen gelernt hatte. Und eine Sprache, mit der er längst gut zurechtkam. „Es gab nicht mehr genug, was mich in Irland hielt.“
Zurück im Schrozberger Lagerhaus
So stand Clive Ross eines Morgens wieder bei Walter Schuch im Lagerhaus in Schrozberg. Back home again in Hohenlohe! Er arbeitete viel, traf Freunde, ließ sich auf alles ein, was ihn wieder mit den Menschen zusammenbrachte. Dazu gehörte auch eine Kajak-Tour auf der Altmühl. Der Blitz schlug in etwa auf der Höhe von Eichstätt ein. Elke Kranich hieß seine Bootsfrau. Er verliebte sich sofort in sie – und sie sich in ihn, „weil er ein so positiver, offener und harmonischer Mensch ist“, sagt sie.
Die beiden heirateten 2004. Den Plan, in ihre Heimat Stuttgart zu ziehen, gaben sie bald auf. Da gab es keine Jobs in der Landwirtschaft. So blieben sie in Hohenlohe. Creglingen im Taubertal wurde ihre gemeinsame Heimat. Elke arbeitete als Gemeindekrankenschwester, Clive Ross im BAG-Raiffeisenmarkt. 2006 wurde Owen geboren, 2008 Tochter Malaika, zwei Jahre später Loreen.
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: „Rudolf Manga Bell wuchs in allen Aalen auf – Ein deutscher König in Kamerun“
Den Papa kannte in der Region bald jeder. Nachdem Clive Ross jahrelang mühsam den Unterschied zwischen Du und Sie gelernt hatte, brauchte er ihn nun bei seinen Bauern fast nicht mehr. Er kann es mit den Leuten, liebt ein Schwätzchen, sagt „gschwind“ und „jetzedle“, als ob er damit groß geworden wäre. Eines dieser Schwätzle führte ihn zur Besitzerin eines Schrebergartens. Den suchte der bodenständige Ire nämlich für seine Freizeit. Die alte Dame, die ihn verpachten wollte, fragte ihn auch gleich, ob er Interesse an einem Haus hätte. Sie hatte eines zu verkaufen und ging mit dem Preis so lange runter, bis es passte.
Heute sitzen Clive Ross und seine Frau Elke in ihrem Gartengrundstück in Creglingen, umgeben von Streuobstbäumen. Alles grünt hier wunderbar, fast wie auf jener Insel, die Ross vor vielen Jahren verließ. Er hat dann noch eine dritte Ausbildung gemacht, als Müller. Dafür ging er noch mal nach Schrozberg und auf die Berufsschule nach Stuttgart.
Die Schwiegereltern ließen ihn in dieser Zeit bei sich wohnen, halfen beim Hauskauf mit den Verträgen. „Ich bin hier so vielen Menschen so unendlich dankbar“, sagt Clive Ross. Immer wieder mal schneien die Kinder herein, fragen den Papa dies und jenes, auf Deutsch natürlich. Er antwortet zumeist auch so zurück: „Ich träume ja inzwischen nicht mal mehr auf Englisch“, sagt er.
Ross, der Stimmenkönig im Kirchengemeinderat
Die Kinder waren es auch, die Clive Ross in Kontakt mit der evangelischen Kirchengemeinde von Creglingen im Taubertal brachten. Sie ist Träger des Kindergartens, und ab und an ergab sich ein Schwätzchen mit dem Pfarrer. Als der 2013 der Familie Ross einen Besuch abstattete, weil er Kandidaten für den Kirchengemeinderat suchte, hatte er eigentlich Elke Ross im Auge.
Doch am Ende gewann er Clive: Der Einwanderer aus der erzkatholischen Republik Irland, er war tatsächlich Protestant, der Onkel sogar evangelischer Kirchengemeinderat in Cork. Clive Ross wurde gewählt, mit dem drittbesten Ergebnis aller, die sich beworben hatten. Sechs Jahre später wurde er im Amt bestätigt – als Stimmenkönig und Vorsitzender eines Gremiums, das zu den traditionellsten auf dem Land gehört.
Heute ist Clive Ross Silomeister bei der BAGeno Bezugsgenossenschaft in Markelfingen. 22 000 Tonnen Getreide werden dort jährlich umgeschlagen: Braugerste, Weizen, Futtergerste, Raps. Eine Landwirtschaft in großem Stil, wie er es von Irland her kennt. Fragt man Clive Ross, ob er inzwischen in Hohenlohe und im Taubertal endgültig zu Hause ist, antwortet er aus tiefster Seele: „Oh ja!“ Keine zehn Pferde oder 700 Rinder bringen ihn hier mehr weg. Sowie mit hundertprozentiger Sicherheit auch keine Freundin namens Rhoda.
Er hat ja nun seine Elke, eine Frau, die es wirklich ernst mit ihm meint. Clive Ross wirkt glücklich und zufrieden. Es ist die Zufriedenheit eines Menschen, der viel erlebt und durchgemacht hat. Ab und an hört er im Internet irische Musik und verfolgt die Todesanzeigen aus seiner alten Heimat.
Aber das ist Vergangenheit. Die Gegenwart gehört ganz und gar seiner neuen Heimat im ländlichen Baden-Württemberg. Ob er etwas vermisst? „Das Meer“, sagt er. „Das Rauschen der Wellen.“ Gebadet hat er darin übrigens nie, „ich konnte ja nicht schwimmen“. Auch das hat er in Hohenlohe gelernt.