Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau Tödlicher Rassismus
Die Wahrheit nach dem Anschlag von Hanau ist bitter: Das Risiko einer solchen Tat ist gewachsen, kommentiert unsere Berliner Korrespondentin Katja Bauer.
Die Wahrheit nach dem Anschlag von Hanau ist bitter: Das Risiko einer solchen Tat ist gewachsen, kommentiert unsere Berliner Korrespondentin Katja Bauer.
Berlin - Es ist ein Jahr her, dass sich Tobias R. zu seinem tödlichen Terrorzug durch Hanau aufmachte. Er ging planvoll vor. Bevor er loszog, kündigte er seine Tat im Internet an. Er suchte sechs Orte in seiner Heimatstadt aus, weil er überzeugt war, dort die Opfer seiner Wahl zu finden. Sein Ziel war es, so viele Menschen aus muslimischen Einwandererfamilien zu töten wie möglich. Nach erfüllter Mission fuhr er nach Hause, ermordete seine Mutter und richtete sich selbst.
Ein Jahr danach wirft die Tat von Hanau zwei entscheidende Fragen auf: Wie geht der Staat mit der Aufarbeitung des Terrors um, dessen Opfer er nicht schützen konnte? Und wie groß ist die Gefahr, dass sich solch eine Tat jederzeit wieder ereignen kann? In beiden Fällen müssten die Antworten uns als Gesellschaft schlaflos machen. Die bittere Wahrheit lautet: Das Risiko einer solchen Tat ist in Deutschland für alle gewachsen. Aber das Risiko Opfer zu werden, tragen eben nicht alle. Daraus folgt eine gesellschaftliche Pflicht, den Bedrohten Schutz zu bieten.
Der Täter von Hanau steht in einer Reihe mit dem Attentäter von Halle und dem von München, er steht in einer Reihe mit den Tätern von Christchurch und Utoya. Es kann nicht als Entwarnung gelten, dass Tobias R. offensichtlich psychisch erkrankt war. Viel zu oft schon war die Vorstellung, man habe es mit einem „geistig verwirrten Einzeltäter“ zu tun, eine willkommene Entlastungsargumentation um nicht erkennen zu müssen, wie tödlich die Gefahr rassistischen und rechtsextremen Gedankenguts ist. So irre das Gedankengebäude gewesen sein mag, in dem sich Tobias R. bewegte, so bleibt eines sicher: Er war Rassist. Und dieser gezielte Hass gegen eine bestimmte Menschengruppe wurde zum Motiv seiner Tat.
Gerade eben erst hat der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, in einem Interview vor weiteren Anschlägen dieser Art gewarnt. „Einsame Wölfe“ nennen manche Ermittler diesen Typus des sich selbst radikalisierenden Einzeltäters. Immer häufiger treffen sie dabei auf eine neuartige explosive Mischung – Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Verschwörungsmythen verweben sich miteinander. Auch in den Aufzeichnungen des Attentäters von Hanau fanden sich solche Gedanken.
Nach Kassel, Halle und Hanau musste sich der Staat eingestehen, die Gefahr des Rechtsextremismus zu lange unterschätzt zu haben. Es sei, so sagte der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vor einem Jahr, ein unhaltbarer Zustand, wenn Menschen in Deutschland sich nicht mehr sicher fühlten.
Der Staat hat aufgerüstet. Der Maßnahmenplan gegen Rassismus und Rechtsextremismus ist lang. Wenn am Freitag der Opfer von Hanau gedacht wird, dann ist der Bundespräsident an der Seite der Opferfamilien. Das ist gut.
Aber wird es etwas nützen? Es gibt bis heute kein Sicherungssystem, dessen Warnlampen bei einem neuen Täter vom Schlage eines Tobias R. früher blinken würden – ihm den Waffenbesitz verbieten zum Beispiel oder seine Radikalisierung erkennen. Gegen Gefährder wie diesen kann Repression niemals zu 100 Prozent schützen. Umso entscheidender wäre es, ein politisches und gesellschaftliches Klima zu schaffen, das Schutzwirkung entfaltet. Aber das Jahr der Pandemie hat gezeigt, wie anfällig die Krise viele Menschen für abstruse Erkläransätze und für Radikalisierung macht. Was wir zunehmend erleben, ist nicht nur eine polarisierte Debatte – es ist eine Abbruchkante, ein Abgrund, an dem die Debatte endet. Muslime, Juden, Menschen aus Einwandererfamilien, Minderheiten, Frauen erleben hautnah die Wucht des Hasses. Der unhaltbare Zustand, von dem Schäuble sprach, er ist nicht besser geworden.