Weitere Beben, ein schneereicher Winter und nicht zuletzt die italienische Bürokratie haben vieles in der Erdbebenregion verzögert. In Amatrice sind die Trümmer der Häuser noch immer nicht weggeräumt. Doch langsam kehren die Bewohner in ihren Ort zurück.

Amatrice - Die echte Amatriciana treibt einem an diesem Tag die Tränen in die Augen. Hier, im Restaurant Roma in Amatrice, schmeckt die Pasta mit der Tomatensoße und dem typischen Guanciale, einem Speck, der aus der Wange des Schweins hergestellt wird, noch besser als im Rest des Landes. Rauchiger, würziger und gleichzeitig auch harmonischer. Doch es sind nicht die Nudeln, die einen in diesem Restaurant erst einmal schlucken lassen.

 

Das neue Restaurant Roma hat seit wenigen Tagen geöffnet. Um die Mittagszeit einen Tisch zu ergattern, scheint quasi unmöglich. Alfonso Bucci und sein Personal verteilen im Sauseschritt die Pasta auf den Tischen. Der Duft folgt ihnen durch den großen hellen Holzbau mit den Glasfronten. Der 47-Jährige Inhaber ist am Rande seiner Kräfte, der Kopf ist gerötet, das T-Shirt klamm. Doch trotz der Hektik und des Chaos strahlt Alfonso Bucci tiefe Zufriedenheit aus. Die Energie sprudelt nur so aus ihm heraus. Es geht weiter. Endlich. Amatrice erwacht wieder.

In der Zona Rossa türmen sich noch immer die Trümmer

Das tragische Ende und der vorsichtige Neuanfang liegen nur wenige Meter voneinander entfernt. Eineinhalb Kilometer der Landstraße Frazione San Cipriano trennen die neu erbaute Area dell Gusto, einen Gebäudekomplex mit acht Restaurantbetrieben, von der Ortsmitte von Amatrice. Am Anfang des Corso Umberto I, der Hauptstraße der Altstadt, war am Morgen des 24. August 2016 die verzweifelte Stille der Wartenden unerträglich. Die Straße liegt seitdem in der Zona Rossa, der Sperrzone, die nur ausgewiesene Arbeiter und Mitarbeiter des Zivilschutzes betreten dürfen.

Die Straßen der Zona Rossa sind größtenteils frei geräumt. Am Straßenrand türmen sich noch immer die Trümmer der vom Beben zerstörten Häuser. Auch vom Hotel Roma an seinem ursprünglichen Platz ist nur noch ein Haufen aus Steinen, Holz und zerstörtem Inventar übrig. Rund ein Jahr nach der Katastrophe wirkt der zarte Lärm der Abbruch- und Aufräumarbeiten wie das so lang erwartete Signal zum Aufbruch. „90 Prozent der Trümmer müssen noch weggeräumt werden“, sagt Sergio Pirozzi, der Bürgermeister von Amatrice. Er hat die Zone vor fast einem Jahr zuletzt betreten. Für ihn ist sie gleichbedeutend mit Tod und Horror. In der Nacht zum 24. August, um 3.36 Uhr, bebte die Erde in Mittelitalien. 299 Menschen verloren bei dem Erdbeben der Stärke sechs ihr Leben. Die meisten Opfer hatte das kleine mittelalterliche Amatrice zu beklagen.

Die ersten Familien leben in den Übergangshäusern

Wer der Straße vom Ristorante Roma in Richtung Zona Rossa folgt, stößt nach wenigen Minuten Fußmarsch auf eine Ansammlung orangefarbener Bungalows. Etwa zwanzig von ihnen säumen eine Grünfläche mit Parkbänken und einem Spielplatz. Die Verandas sind alle auf diesen Platz ausgerichtet, vor den Eingangstüren trocknet Wäsche, Blumen hängen von dem dunkelbraunen Gebälk.

„Der Sinn für die Gemeinschaft ist hier stärker geworden“, sagt Maria Teresa Cicconetti. Die 58-Jährige steht zwischen Küche und Wohnzimmer am Bügelbrett und kümmert sich darum, dass Bettwäsche, Handtücher und T-Shirts wieder faltenfrei werden. „Aber gut, es gibt ja auch weniger Platz.“ Seit Mitte Juni lebt sie mit ihrer Familie in einem der Übergangs-Häuser. 60 Quadratmeter teilt sie sich mit ihrem Mann, und dem 26-jährigen Sohn Fabio, wenn der von der Uni in Ancona nach Hause kommt. Vor dem Erdbeben lebte die Familie in einer der Case Commune an der Piazza Augusto Sagnotti. „Drei der Häuser sind eingestürzt“, erzählt Fabio. „25 Menschen sind allein dort gestorben.“ Bevor ihnen ihr Haus zugewiesen wurde, war die Familie in einem Ferienhaus in der Umgebung untergebracht, eine Zeit lang haben sie auch in einem Container gelebt.

Für das Haus muss Familie Cicconetti keine Miete bezahlen, ab Oktober aber soll sie für die Nebenkosten aufkommen. Das Haus haben sie komplett eingerichtet übernommen. „Auch das Bügelbrett hier und das Bügeleisen“, sagt Maria Teresa. „Oder auch Geschirr, Handtücher, was man halt alles braucht.“ Sie sei zufrieden damit. Das graubraune Laminat macht die Wohnung gemütlich, Fabio sitzt auf einem der Sessel der braunen Kunstledergarnitur, in dem kleinen Flachbildfernseher läuft eine Talkshow. Mit den hellen schlichten Möbeln könnten sich die meisten Menschen wohl anfreunden. 195 solcher Häuser hat die Gemeinde ihren neuen Eigentümern bereits zugewiesen. Insgesamt sind 480 Übergangsunterkünfte geplant. „Die restlichen werden Ende September bezugsfertig sein“, sagt Bürgermeister Pirozzi.

Neue Geschäfte sollen den Ort beleben – und bringen Arbeitsplätze

Solange sie zu Hause sei, fühle sich das Leben ganz normal an, sagt Maria Teresa. „Doch sobald du aus der Türe trittst, merkst du wieder: Normal ist hier gar nichts“. Am Abend träfen sich die Nachbarn vor den Häusern. „So gibt es wenigstens wieder ein bisschen Leben hier.“ Doch viele der einstigen Einwohner von Amatrice seien noch immer in Hotels am Meer untergebracht oder hätten sich in Eigenregie eine Wohnung in der Umgebung gesucht. Laut Pirozzi sind von den einst 2600 gemeldeten Einwohnern heute noch 1300 offiziell als Bürger von Amatrice registriert. „Warum ich hiergeblieben bin?“, Maria Teresa lässt einen lauten Seufzer hören. „Weil ich hier eine Apotheke habe, das ist meine Existenz. Sonst wäre ich gegangen.“ Die Apotheke hat sie nur einen Monat nach dem Beben, am 24. September wieder aufgemacht. „In einem Container, dort wo die anderen Einrichtungen für die medizinische Versorgung sind.“

Klar, es gehe nun voran, aber nur langsam. Und manches könne sie einfach nicht nachvollziehen. „Zum Beispiel die Vergabe der Häuser“, sagt Maria Teresa und erklärt das Prozedere: Zunächst wurden die Häuser an Alte und Kranke gegeben. Ihre Familie hatte Glück und wurde danach über das Losverfahren ausgewählt. „Dabei sollten sie doch lieber als erstes junge Familien, Menschen, die arbeiten, hier ansiedeln“, sagt sie. Die Älteren könnten doch auch in den Hotels warten, bis wieder etwas aufgebaut ist. Ihrem pflegebedürftigen Vater wurde zum Beispiel schnell ein Haus zugewiesen, er lebt nun gegenüber. „In dem Haus könnte aber auch eine Familie mit Kindern leben. So käme wieder Leben in den Ort.“

Maria Teresa hält kurz mit dem Bügeln inne. Nein. Sie habe nicht viel Hoffnung, dass Amatrice bald wieder aufgebaut wird. „Das was es vorher war, wird es nie mehr sein.“ Das orangene Häuschen werden sie und ihr Mann so schnell nicht verlassen, glaubt sie. „Wir werden mindestens die kommenden zehn Jahre hier leben.“ Dennoch: Dass es nach so langer Zeit des Stillstandes zumindest etwas vorangeht, sei ja ein gutes Zeichen. „Die Area dell Gusto und die neuen Geschäfte – das ist zumindest ein Anfang. Und bringt Arbeitsplätze.“

Nicht nur das Erdbeben im August hat den Ort in die Knie gezwungen

Nur einen Block entfernt vom Haus der Cicconettis hat am 5. August der „Simply“ Supermarkt eröffnet. Er ist eines von insgesamt 79 Geschäften, die in diesen Tagen in Amatrice wieder ihre Geschäfte aufnehmen. 71 davon werden in den beiden neu erbauten Einkaufszentren an der Landstraße Platz finden, dazu kommen die acht Restaurants in der Area del Gusto, die durch Spendengelder aufgebaut wurde. Rund 12 Millionen Euro waren aus der ganzen Welt zusammengekommen. Die Bundesregierung stellt sechs Millionen Euro für den Bau eines neuen Krankenhauses bereit.

Am vorherigen Sitz des Supermarktes, am Anfang des Corso Umberto I, neigt sich das Haus mit dem roten „Simply“-Schild noch immer in einem 45-Grad-Winkel dem Boden zu. Nach dem schweren Beben im August stand es noch. Das Gebäude wurde durch das zweite schwere Beben am 30. Oktober in die Knie gezwungen – wie nahezu alle der wenigen bis dahin noch stehenden Häuser in der Zona Rossa. Die erneuten heftigen Erdstöße am 18. Januar und der viele Schnee im Winter, der die Region zusätzlich wochenlang lahmlegte, verzögerten die Aufräumarbeiten um Monate.

Dazu kommt das bürokratische Hickhack, das so vieles verzögert und so viele verärgert. Bürgermeister Pirozzi hatte zum Beispiel bei der Regierung beantragt, dass die betroffenen Menschen und Unternehmen erst einmal von den Steuern befreit werden. Ein Vorschlag, gegen den eigentlich niemand etwas hatte, nun wurde aber anscheinend vergessen, die dafür nötigen Beschlüsse in die Wege zu leiten.

Sicherheit geht vor Schönheit

Und dann ist da noch die Sache mit den Trümmern: Weggeräumt wurden hauptsächlich die Überrest öffentlicher Gebäude. Für die privaten Häuser musste es eine Extra-Ausschreibung für die Aufräumarbeiten geben. Diese läuft seit Anfang August. Da war auch Staatspräsident Sergio Mattarella zu Gast in Amatrice. „Wenn der Präsident jeden Tag kommen würde, ginge es wohl auch schneller voran“, sagt Bürgermeister Pirozzi sarkastisch. Unter der Hand erfährt man im Ort, dass jedoch auch manch ein Hausbesitzer die Arbeiten verzögern soll, weil er nicht möchte, dass alles einfach mitsamt womöglich noch intaktem Hab und Gut weggeräumt wird. Wenn der Schutt aber endlich weg ist, soll mit der Planung für den Wiederaufbau begonnen werden. „Wir hoffen, dass wir damit in etwas weniger als einem Jahr beginnen können“, so Pirozzi.

Sicher müssten die neuen Häuser sein. Um Schönheit ginge es erst in zweiter Linie. Rund 70.000 Beben wurden seit dem 24. August 2016 gezählt. „Ich hatte deshalb auch ein bisschen Angst, herzukommen“, sagt Rosella Selle. Sie und ihr Mann Gianpietro Papes sitzen an einem der rund hundert Tische im Restaurant Roma vor einem riesigen Teller voll Pasta. „Vor zwei Jahren waren wir zum ersten Mal in Amatrice um mal eine echte Amatriciana zu essen, natürlich im Hotel Roma“, erzählt Rosella. Letztes Jahr war das Paar aus Treviso auch hier – zwei Wochen vor dem Erdbeben. Daher kennen sie den Besitzer, Alfonso Bucci noch gut. 25 Euro sollen sie für ihr Mittagessen bezahlen. Gianpietro legt 50 Euro auf den Tisch. Der Chef weigert sich vehement, doch Gianpietro insistiert: „Nein, bitte! Wir wollen wenigstens einen kleinen Beitrag leisten.“