Wäre es nach heutigem Stand wieder möglich, dass ein potenzieller Terrorist wie Amri so durch die Maschen des Sicherheitsnetzes flutscht?
Wir haben auf jeden Fall verschiedene Lücken geschlossen. Aber Garantien aussprechen würde ich nicht. Wir sind besser gewappnet und vernetzt. Wir müssen eine Prioritäteneinschätzung vornehmen, wie gefährlich jemand ist. Der Grundfehler war die falsche Einschätzung im Fall Amris. Ein Beispiel: Amri zeigte das, was Ermittler „unislamisches Verhalten“ nennen, er nahm Drogen, traf sich mit Frauen. Deshalb wurde seine Gefährlichkeit herabgestuft. So sahen das alle im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum aus Bund und Ländern, das sich immerhin sieben Mal mit Amri beschäftigt hat. Aber bei der Analyse der Taten von Brüssel, Paris, Berlin hat sich gezeigt, dass die Täter eher typischerweise Kriminelle sind, die versuchen ihre Taten mit Religion zu veredeln. Jetzt haben wir ein einheitliches Kriteriensystem beim BKA, bei dem die Gefährder gemeinsam im Blick gehalten werden.
Was wurde noch verbessert?
Es ist jetzt automatisch verpflichtend, die Frage zu stellen, ob ein Gefährder möglicherweise wegen anderer Straftaten aus dem Verkehr gezogen werden kann – die so genannte Al-Capone-Methode. Im Fall Amri hatten für die ermittelnden Staatsschützer mögliche Drogendelikte einfach nicht so scharf im Blick. Auch die Abfrage nach dem Aufenthaltsstatus und der Möglichkeit der Abschiebung und Abschiebehaft ist jetzt obligatorisch. Künftig gibt es auch nur noch eine zentrale Akte pro Gefährder – im Fall Amri gab es jeweils eine in Berlin und Nordrhein-Westfalen, beide unvollständig.
Brauchen wir nicht im größeren Stil eine Abschiebehaft für Gefährder?
Ja. Wir haben bereits zwei Plätze geschaffen, weil wir im Moment Gefährder haben, von denen unmittelbare Gefahr ausgeht. Sie sitzen derzeit noch eine Strafe ab und drohen schon in der Haft mit weiteren Taten. Solche Menschen muss man nach Ende der Haft sofort in Abschiebehaft nehmen. Dazu wird Lauf des Jahres 2018 eine ehemalige Jugendhaftanstalt in Berlin-Lichtenrade als Abschiebegewahrsam für Gefährder mit bis zu 80 Plätzen in Betrieb gehen .
Sie gehören zu den Befürwortern eines Untersuchungsausschusses Amri im Bundestag. Warum?
Ich hab das vorgeschlagen, weil ich glaube, dass zwar hier in Berlin mit dem Sonderermittler, den Untersuchungskommissionen der Polizei und dem Untersuchungsausschuss und auch in Düsseldorf mit dem Untersuchungsausschuss viel zur Aufklärung beitragen. Aber die Ergebnisse zeigen, dass auch die Arbeit der Bundesbehörden und die Zusammenarbeit mit den Bundesländern noch nicht ausreichend beleuchtet ist.
Die Behörden haben an vielen Stellen im Umgang mit den Opfern und Helfern versagt. Wie kann das sein?
Ja, da waren wir nicht gut. Der Grund dafür ist schlicht mangelnde Erfahrung. Wir haben gelernt, dass auch dieser Teil einer solchen Katastrophenlage vorbereitet und geübt werden muss. Das gab es einfach nicht, es war nicht organisiert. Bei allen Katastrophenübungen wird immer bis zum Anschlagsereignis trainiert, aber nicht die Zeit danach. Das Land Berlin hat inzwischen in Absprache mit dem Bundesinnenminister die Aufgabe übernommen eine Checkliste für dieses Feld zu erstellen, die auch für die anderen Länder gilt. Der zuständige Staatssekretär war bei Experten in Israel, um von dort zu lernen. Das fängt an beim Hochfahren der psychosozialen Betreuung und endet bei der Änderung des Opferentschädigungsgesetz. Im Land Berlin haben wir eine eigene Stelle für die Opferberatung und -nachsorge eingerichtet. Wir sind im Austausch mit Vertretern aus Paris, Brüssel, London, und es gibt eine Schlussfolgerung: Üben, üben, üben und daraus lernen.
Die Änderung des Opferentschädigungsgesetzes liegt seit Monaten im Bundestag.
Ja, das ist absolut überfällig. Es ist seit Sommer fertig und nicht beschlossen. Wir haben jetzt die Situation, dass beispielsweise die Opfer von Flugzeugunglücken besser entschädigt werden als die Opfer von Terroranschlägen – diese Gesetzeslücke muss man dringend schließen.
Wie erklären Sie sich persönlich, dass die Kanzlerin die Hinterbliebenen noch nicht getroffen hat?
Ich verstehe die Perspektive der Opfer, aber ich bin da zurückhaltend. Wir standen am Tag nach der Tat gemeinsam auf dem Platz vor den Blutlachen, man kann es nicht anders sagen. Sie war sehr betroffen.