Mehr als 19.000 Menschen starben bei der mörderischen Flut. Das Leben vieler Japaner hat sich seither grundlegend verändert.

Kamaishi - Ihr Haus in der nordjapanischen Kleinstadt Kamaishi stand 50 Meter vom Pazifik entfernt. Eine Minute bevor sie der Tsunami erfasste, fotografierte Machiko Kikuchi noch die Erdbebenschäden an ihrem Haus; ein Teil der Fassade war abgebrochen. Um 16.21 Uhr begann das alte Gebäude bereits unter der Wucht der hereinbrechenden Tsunamiwellen zu erzittern. Sekunden später erfassten die Wassermassen ihren Kleinwagen und spülten ihn an ein Nachbarhaus. Ihr eigenes Haus brach weg – mit ihrem 18-jährigen Sohn Yukihiro auf dem Dach.

 

15 850 Menschen starben am 11. März 2011 entlang der japanischen Ostküste, 3287 gelten noch als vermisst. Viele der Opfer waren ältere Menschen, die nicht aus eigener Kraft fliehen konnten. Die meisten jungen Anwohner waren am Freitagnachmittag bei der Arbeit, als das Beben um 14.46 Uhr zuschlug. Andere, die mit dem Auto fliehen konnten, wurden im Stau vom Tsunami überrascht. Ein Jahr später zeugt eine bedrückende Leere an Stellen, wo sich vorher Fischerdörfer drängten, von der gewaltigen Kraft der Natur. Machiko Kikuchi ist die „Tsunami-Oma“, auch wenn der 49-Jährigen dieser Spitzname nicht recht schmeckt. „Ich verstehe ja, wenn mich junge Leute so rufen, aber älteren Leuten will ich entgegnen: ,Sie sind doch auch eine Oma!‘“ Die Strapazen waren ihr damals, kurz nach dem verheerenden Unglück, noch deutlich anzusehen, graue Haare habe sie bekommen. Jetzt hat sie wieder Farbe im Gesicht. Sie lächelt viel und weint nicht mehr.

Ihr Schicksal wurde in Japan bekannt, weil ein Kameramann des staatlichen Fernsehsenders NHK von einem Hügel aus zufällig den Moment aufnahm, als sie – und mit ihr das ganze Hafengebiet von Kamaishi – von einem über elf Meter hohen Tsunami erfasst wurde. Stellenweise erreichte das Wasser durch seinen enormen Schwung noch Zonen, die fast 30 Meter über dem Meeresspiegel lagen. Mehr als 1000 Menschen haben in Kamaishi ihr Leben verloren.

Nach dem heftigen Erdbeben der Stärke 9,0 hatte die 49-Jährige nach ihrem Sohn sehen wollen, der zu Hause war. Auf dem Weg hörte sie im Autoradio plötzlich die Warnung: „Ein drei Meter hoher Tsunami kommt, fliehen Sie auf höher gelegene Gebiete!“ Sie hatte große Angst, doch ihr Sohn nahm sie nicht ernst. Denn ein Vorbeben zwei Tage zuvor hatte nur einen 50- Zentimeter-Tsunami ausgelöst, der in ufernahen Lagen eine Schlammschicht hinterlassen hatte. So würde das auch an diesem 11. März 2011 wieder werden, dachten nicht wenige und stöhnten bei dem Gedanken an eine neue Putzaktion.

Anwohner warnten sie noch

Anwohner auf der Anhöhe schrien ihr noch zu: „Schnell, geh da weg, da kommt ein Tsunami!“ Da wurde sie schon mitsamt dem Wagen von den Wassermassen angehoben und an eine Hauswand gedrückt. Als die eiskalten Fluten des Pazifiks ins Fahrzeug eindrangen, dachte sie: „Ah, so sterben also Leute, die ertrinken.“ Doch sie wollte leben, für ihre beiden Söhne und ihren Mann: Mit letzter Kraft konnte sie sich unter Wasser aus ihrem Auto befreien. Sie schaffte es an die Wasseroberfläche und zwängte sich durch ein kaputtes Fenster ins Nachbarhaus.

„Zu dem Zeitpunkt war ich sicher, dass mein Sohn das nicht überlebt haben konnte“, sagte sie beim ersten Gespräch knapp drei Monate nach der Katastrophe. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die ganze Nacht habe sie die Zeitansage angerufen oder Fotos von ihrem Sohn angesehen. Was sie nicht wusste: Auch er hatte Glück im Unglück. Das Dach seines Elternhauses verkeilte sich mit einem anderen, er konnte hinüberklettern und wurde schließlich von Anwohnern gerettet.

Etwa ein halbes Jahr nach dem Tsunami, als die erste Freude und Erleichterung, überlebt zu haben, vorüber war, begann der Verlust ihres Hauses mit all seinen Erinnerungen schwer an Machiko Kikuchi zu nagen. Darüber konnte sie auch nicht hinwegtrösten, dass sie schon recht früh, Anfang Juni 2011, von der Stadt ein altes Haus zur Verfügung gestellt bekam. Dort wohnt sie nun vorerst für zwei Jahre kostenfrei mit ihrem Mann und ihrer 80-jährigen Schwiegermutter, die ihr auch in ihren beiden Läden für Fisch- und Meeresfrüchteprodukte hilft. Ein Jahr später ist auch wieder ihr Mann mit von der Partie, dessen Familie vor vier Generationen den Grundstein für den Betrieb legte. Er war kurz nach der Katastrophe erkrankt – woran, darüber schweigt sich die sonst sympathisch redselige Frau aus.

Ihren 18-jährigen Sohn zog es erst einmal weg aus Kamaishi ins rund 600 Kilometer entfernte Tokio. Dort arbeitete er in einem Supermarkt, wo er Fisch filetierte und verkaufsfertig machte. Doch schon zum 1. März 2012 packte er wieder die Koffer, kein Dreivierteljahr später. Er wolle professioneller Angler werden. Seine Mutter war anfangs wenig begeistert. Dafür muss er nämlich erst Geld auf die Seite legen, bevor er welches verdienen kann. „Lass mich die Arbeit machen, die ich mir wünsche“, versuchte er sie zu überzeugen. In der Tat nahmen viele Tsunami-Opfer ihre Erlebnisse zum Anlass, ihr Leben neu zu überdenken.

„Es wird einen tieferen Sinn gehabt haben, dass er damals überlebt hat“, sagte sich Machiko Kikuchi und half ihrem Sohn beim Umzug in ihr temporäres Zuhause, das sich jetzt an einen Hügel im Hinterland der Stadt schmiegt. „Ich liebe das Meer“, sagte sie, die ihr Leben am Wasser verbracht hat und bei einem zweijährigen Aufenthalt in Tokio Heimweh danach bekam. Aber wieder so nah dort zu wohnen, das bleibt für sie unvorstellbar, auch ein Jahr danach.