Ein Jahr nach der Wahl in Belarus Ist Lukaschenko der neue Stalin?

Alexander Lukaschenko will Vergeltung. Foto: dpa/Nikolay Petrov

Seit einem Jahr baut Alexander Lukaschenko in Belarus sein Schreckensregime weiter aus. Oppositionelle berichten von Folter bei Verhören.

Minsk - Alexander Lukaschenko redet nicht drum herum. „Im Land läuft eine Säuberung“, sagt der Mann, der seit 27 Jahren die Macht in Belarus in Händen hält. Ein Jahr nach Beginn der Massenproteste gegen seine Alleinherrschaft bekennt er sich offen zu dem „Krieg gegen das eigene Volk“, von dem Regimegegner seit Langem sprechen.

 

Lukaschenko sagt: „Natürlich, es sind ja unsere eigenen Leute, deren Gehirne mit westlichem Geld gewaschen wurden.“ Von diesen „Feinden“ will der 66-Jährige Belarus säubern. Der Geheimdienst KGB, die Sonderpolizei Omon, die Miliz und die Justiz überziehen das Land mit Razzien, Verhaftungen und Schauprozessen. Folter inklusive.

Die Menschenrechtsorganisation Wjasna (Frühling) berichtet am Sonntag von 610 politischen Gefangenen in Belarus. Das sind aber nur jene Inhaftierte, denen das Regime Angriffe auf die staatliche Ordnung vorwirft. Die Dunkelziffer dürfte in die Tausende gehen. Zu den offiziellen Fällen zählen einige der prominentesten Oppositionellen, darunter die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Sergei Tichanowski und Viktor Babariko. Lukaschenko ließ beide vor der Wahl am 9. August 2020 verhaften. Das war jener Tag, der Belarus von Grund auf veränderte. Darin sind sich fast alle Beobachter einig. „Es gibt kein Zurück mehr zu den Verhältnissen vor dem Wahlsonntag“, prophezeite die Politikwissenschaftlerin Olga Dryndova schon vor einem Jahr.

Die Opposition spricht von „Gewaltorgien“ und sendet aus Polen

Zur Erinnerung: Für den Blogger Tichanowski trat dessen Frau Swetlana Tichanowskaja gegen Lukaschenko an, unterstützt von Maria Kolesnikowa, der Wahlkampfleiterin des Bankers Babariko. Die Frauen lösten in Belarus Begeisterung aus. Der Wandel schien zum Greifen nah. Doch am Abend des 9. August behauptete Lukaschenko, die Wahl mit 80 Prozent gewonnen zu haben. Die Opposition nannte das Ergebnis „ausgedacht“ und präsentierte zahlreiche Belege. Hunderttausende gingen zum Protest auf die Straße.

Doch damit begannen auch die „Gewaltorgien“, von denen der Journalist Igor Stankewitsch spricht. Der 45-Jährige arbeitet für den oppositionellen Fernsehkanal Belsat, der nur noch aus Warschau senden kann. Auch Stankewitsch flüchtete in die polnische Hauptstadt, nachdem er selbst in die Fänge des Regimes geraten war: „Sie brachen mir die Nase und zwangen mich auf die Knie, mit dem Kopf auf den Boden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Dann schlugen sie mit Stöcken auf mich ein und schrien: Was gefällt dir bei uns nicht?“ Ein Jahr danach hat der zweifache Vater etwas Abstand gewonnen. Bei einem Treffen erzählt er: „Meine Großeltern sind Stalins Säuberungen zum Opfer gefallen. Ich habe die Verhörprotokolle gelesen. Es lief alles genauso ab wie heute. Sie quälen dich, bis du gestehst. Aber wer gesteht, hat erst recht keine Chance.“

Stankewitsch ist nicht der Einzige, der Vergleiche zwischen Stalin und Lukaschenko zieht, auch wenn das Ausmaß der Gewalt ein anderes ist. Allein im sowjetischen Gulag-System starben Millionen Menschen. Aber die Methoden seien ähnlich, sagt der Historiker Waleri Karbalewitsch. Er findet drastische Worte: „Lukaschenko hat Belarus in ein Konzentrationslager verwandelt.“ Für ein wichtiges Motiv hält er die „Rachsucht“ des Präsidenten. Immerhin habe das Regime im Sommer 2020 kurz vor dem Sturz gestanden: „Um das auszubügeln, will sich Lukaschenko an allen rächen, die ihm diese Wunde zugefügt haben.“

Alexander Lukaschenko gilt als rachsüchtiger Mensch

Auch an der Europäischen Union. So sieht es Pawel Latuschko, der die Arbeit der Exil-Opposition koordiniert. Die jüngsten Versuche des belarussischen Regimes, Flüchtlinge aus dem Irak, Syrien und Afrika nach Litauen zu schleusen, seien vor allem eine Vergeltung für die westliche Sanktionspolitik.

„Lukaschenko ist ein rachsüchtiger Mensch“, sagt Latuschko. Für die These spricht einiges. Da war die Entführung des Regimegegners Roman Protassewitsch, den Lukaschenko zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis zwang. Und nicht zuletzt ist da der Schauprozess gegen Maria Kolesnikowa. Die 39-Jährige soll einen Putsch versucht haben. Tatsächlich hat sie mit den Fingern nur immer wieder ein Herz geformt und so die Proteste angeführt.

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