Ein Jahr ohne Atomstrom Riskante Wette auf die Zukunft

Atomruine: Der stillgelegte Meiler in Neckarwestheim. Foto: Simon Granville/Simon Granville

Der Atomausstieg vor einem Jahr wirft mehr Fragen auf, als dass er beantwortet. Es gibt berechtigte Zweifel an der Versorgungssicherheit – fatal für einen Industriestandort, meint StZ-Autor Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Eine der langlebigsten deutschen Protestparolen ist seit einem Jahr Realität: Atomkraft? Nein danke – so lautet seit dem 15. April 2023 eine Grundregel der von der Ampelkoalition bestimmten Energiepolitik. Der Verzicht auf Nuklearstrom war eine epochale Entscheidung. Im Unterschied zu früheren Zeiten, als Anti-Atom-Demos die politische Kultur der Bundesrepublik mitgeprägt haben, glaubt inzwischen aber eine Mehrheit, dass der Ausstieg aus der Kernenergie ein Fehler war. Zeit für eine nochmalige Zeitenwende?

 

Das predigt neuerdings die CDU, aktuell die Partei mit dem größten Rückhalt beim Wahlvolk. Um ihre Glaubwürdigkeit bei diesem Thema ist es nach etlichen Kurswechseln aber nicht zum Besten bestellt. Unter der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel stimmte sie erst für einen Aufschub des Atomausstiegs – um ihn nach dem Reaktorunfall in Fukushima dann doch beschleunigt herbeizuführen, jetzt aber wieder eine Rückkehr zur Atomenergie zu propagieren. Eine klare Linie sieht anders aus.

Gleichwohl ist Deutschland ziemlich einsam mit seiner programmatischen Atomkraft-Abstinenz. International glauben viele an eine Renaissance der Nukleartechnik als klimaschonende Energiequelle. Bei der Weltklimakonferenz in Dubai hat eine Allianz von 22 Staaten angekündigt, die eigenen Produktionskapazitäten für Atomstrom bis 2050 verdreifachen zu wollen.

Renaissance der Atomenergie

Diesen Weg gehen auch etliche europäische Nachbarländer, allen voran Frankreich, was im vergangenen Jahr wieder Europas größte Stromexportnation war. Unterdessen rühmt die deutsche Regierung sich zwar, den heimischen Strom erstmals überwiegend aus erneuerbaren Quellen gewonnen zu haben. Just im Jahr des Atomausstiegs war das Industrieland Nummer eins in der Europäischen Union aber von Stromimporten abhängig. Während die Importe um 40 Prozent zugenommen haben, ging die exportierte Strommenge um mehr als 20 Prozent zurück. Unterm Strich blieb ein Importüberschuss. Das war zuletzt vor zwei Jahrzehnten einmal vorgekommen – keine Reklame für das Prinzip „Atomstrom? Nein danke“.

Atomkraftwerke abzuwracken und zugleich den Kohleausstieg anzupeilen, während der Strombedarf wegen der Elektrifizierung von Heizungen und Verkehr absehbar enorm ansteigen wird, ist für einen Industriestandort eine ziemlich riskante Wette auf die Zukunft. Auch der Bundesrechnungshof hat unlängst die Versorgungssicherheit angezweifelt. Fazit seiner Mängelrüge: „Die Energiewende ist nicht auf Kurs.“ Der Netzausbau und die Installation von Windrädern hinkt dem Bedarf hinterher. Zudem mangelt es an sogenannten Back-up-Kapazitäten, die dann Strom liefern, wenn Flaute herrscht und keine Sonne scheint.

Versorgung und Endlagerung ungelöst

Gleichwohl gibt es berechtigte Zweifel hinsichtlich einer Rückkehr zur Atomenergie. Die bei Umfragen bekundete Begeisterung für Atomstrom würde sich rasch ins Gegenteil verkehren, wenn neue AKW-Standorte gesucht würden – erst recht beim ersten Zwischenfall mit entweichender Radioaktivität. Volkes Wille ist in dieser Hinsicht ziemlich wetterwendisch.

Der Bau von AKWs ist zudem langwierig und überaus teuer. Ganz zu schweigen von den Hinterlassenschaften nuklearer Stromproduktion. Es wird noch Jahre, eher Jahrzehnte dauern, bis überhaupt nur feststeht, wo sie bleiben sollen. Auch in dieser Hinsicht hechelt die Politik den Erfordernissen weit hinterher. Insofern bedeutet ein Jahr ohne Atomstrom noch lange nicht, dass Deutschland sich aus dem Atomzeitalter verabschiedet hätte. Das ist eine grüne Illusion.

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