Da hilft nichts: Dem Fußball entgehen wir in den kommenden Wochen nicht; er wird Alt und Jung vereinen, kinderlose und kinderreiche Familien zusammenführen; er wird, bedauerlicherweise, den deutschen Aufschwung hemmen, da am Arbeitsplatz erst einmal alle fragwürdigen Strafstoßentscheidungen zu kommentieren und dann Lichterketten zu organisieren sind, mit denen eine Nachnominierung von Mats Hummels erzwungen werden könnte. Sobald der erste Ball rollt, werden wir alles Unangenehme beiseiteschieben: das Auftreten der Offiziellen, die furchtbare Wichtigtuerei der Experten und das von der Schwiegermutter für den 19. Juni (Deutschland gegen Ungarn!) geplante Familientreffen.
Niemand kann sich – in der Hoffnung auf ein neues Sommermärchen – diesem Sog entziehen, denn zumindest in unseren Breiten gelingt es keiner anderen Sportart, schnellen Kontern und tollkühnen Fallrückziehern Paroli zu bieten. Anfang der 1990er Jahre mutmaßten Skeptiker, dass die große Zeit des Fußballs in Deutschland zu Ende gehe und sich die neue „Leitsportart“ Tennis in den Vordergrund schieben werde. Nichts davon ist eingetreten, und aller Kommerzialisierung zum Trotz liegt die Mehrheit der Deutschen den Fußballhelden zu Füßen. Warum ist dem so? Was macht die Faszination dieses Sports aus? Sechs mögliche Antworten seien gegeben, Erklärungsversuche, die hilfreich sein mögen, unbeirrbare EM-Nörgler zur Räson zu rufen.
Fußball ist einfach. Es ist nicht schwer, sich auch als Laie mit und in diesem Spiel zurechtzufinden. Seine 17 Regeln strukturieren auf einfache Weise und erlauben es Novizen, sich sofort einer Mannschaft anzuschließen und auf Torejagd zu gehen. So wie früher, als wir auf dem Schulhof oder im Pfühlpark (der liegt im Osten Heilbronns, wo – lang, lang ist’s her – sogar Zweite Bundesliga gespielt wurde) spontan zusammenkamen, mit vier Ranzen zwei Tore absteckten und schnurstracks versuchten, die Plastikpille reinzumachen.
Selbst das Abseits, diese oft verkannte, das intelligente Spiel befördernde Regel, kann der Übersichtlichkeit des Fußballs nicht ernsthaft etwas anhaben. Wie anders sieht es da beim American Football oder beim Baseball aus, jenen rätselhaften, stundenlang dauernden Beschäftigungstherapien, mit denen sich unsere amerikanischen Freunde die Zeit beim Cheeseburger-Essen vertreiben! Übrigens: Wem der Satz „Fußball ist einfach“ wiederum zu einfach ist, der kann das komplizierter haben und den Nürnberger Historiker Christoph Bausenwein zitieren. In dessen Standardwerk „Geheimnis Fußball“ findet sich die intellektuell viel anmutigere Wendung, dass der Fußball eine „Oase reduzierter Komplexität“ darstelle.
Fußball ist spannend. Ja, das stimmt, auch wenn uns der Blick auf die Tabelle eines Besseren zu belehren schien. Schießt nicht automatisch das dicke Geld die meisten Tore? Wird jemals wieder eine andere Mannschaft als Bayern München den Meistertitel erringen? So dachten wir, ehe uns Xabi Alonso erlöste und Paris Saint-Germain erfreulicherweise wieder einmal scheiterte. Fußballergebnisse lassen sich zum Glück noch nicht hundertprozentig vorhersagen, so ist völlige „Planungssicherheit“, die Lieblingsvokabel aller Controller, in den Clubs immer noch nicht zu erlangen. Der Hamburger SV weiß davon ein düsteres Lied zu siegen.
Die Unberechenbarkeit des Ausgangs ist das Salz in der Suppe. Oder in den Worten des Fußballweisen Sepp Herberger: „Die Leut’ geh’n ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Darin unterscheidet sich der Fußball auch von anderen Kulturhervorbringungen, die auf der Feuilletonwerteskala gemeinhin viel höher angesiedelt sind. Der Wiener Germanistik-Professor Wendelin Schmidt-Dengler sprach dieses Missverhältnis direkt an: „Wie Shakespeares ‚Hamlet‘ oder Lessings ‚Minna von Barnhelm‘ ausgehen, weiß ich; wie aber das nächste Derby zwischen Rapid und Austria ausgeht, weiß ich nicht. Der ästhetische wie dramaturgische Vorsprung des Hanappi-Stadions vor dem Burgtheater ist kategorial.“
Fußball verbindet die Völker. Gewiss, das Ringen um den entscheidenden Treffer hat Nationen auch entzweit, damals, als die Schweden bei der WM 58 die Herberger-Jungs provozierten oder als es 1969 gar zum Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador kam. Zum Glück sind das unrühmliche Ausnahmen geblieben: Alle Welt freut sich zu sehen, dass auf Amrum und in Pontresina das gleiche Fieber erwacht, sobald sich die Möglichkeit zum Schuss in den Winkel bietet. Vier Wochen lang sind die System- und Wirtschaftsunterschiede nahezu vergessen; wir akzeptieren, dass die ungarische Viererkette nichts mit dem Orbán-Regime zu tun hat, der politische Rechtsdrift in den Niederlanden deren Spielweise nicht verändert, und wir sind froh, wenn Didier Deschamps und Julian Nagelsmann mehr Nähe zueinander entwickeln als Emanuel Macron und Olaf Scholz. Kurz: Im Bemühen, das Runde ins Eckige zu befördern, sind sich die Länder unseres Kontinents einig.
Fußball spiegelt das Leben. Der Journalist Dirk Schümer hat schon 1996 in seinem Buch „Gott ist rund“ dazu alles Nötige gesagt: „Fußball lohnt die höchste begriffliche Anstrengung. Wenn wir alle seine Aspekte verstanden haben, dann haben wir auch das Leben verstanden.“ Daran halten sich mittlerweile auch intellektuelle Geister. Der Schriftsteller Manfred Hausmann beispielsweise sah bereits 1960 bei seiner DFB-Festansprache im Fußball allenthalben Analogien zum „richtigen“ Leben und duldete für den Feldverweis nur einen angemessenen Vergleich: die Todesstrafe. Walter Jens konterte 1975 aus linksliberaler Ecke und wollte auf dem Spielfeld den utopischen Vorschein einer besseren Gesellschaft erkennen. Später kamen Kulturwissenschaftler wie Klaus Theweleit, die die Fußballbegeisterung als Ausweichen vor politischen Visionen deuteten und die Ähnlichkeit zwischen den Rechtecken „Fußballfeld“ und „Blatt Papier“ verblüffend fanden, hinzu oder Kirchenrechtsprofessorinnen wie Sabine Demel, die keinen Zweifel daran ließ, dass das Abseits, passiv wie aktiv, für sie ein „Lebenselixier“ sei.
WM 1970: zuhause vor dem Grundigschirm
Fußball strukturiert das Leben. Offen gesagt: Diese schnelllebige, globalisierte, kriegerische Welt überfordert uns tagtäglich, sei es vor dem Nudelregal, sei es beim Lesen von Internetkommentaren. Wie soll man da Ordnung in sein Leben bringen? Ganz einfach: Strukturieren Sie Ihre Biografie nicht mehr anhand von Familienfesten oder beruflichen Karrieresprüngen. Erstere vergisst man leicht, Letztere werden im zunehmenden Alter seltener. Rettung bietet der Fußball, der mit seinen wiederkehrenden Höhepunkten einen Rest von Identität verleiht. 1970 – was war damals los mit mir? Mit wem ging ich zur Schule und warum? All das lässt sich heute kaum mehr beantworten, während ich mich genau daran erinnere, wie wir zu Hause vor dem Grundig-Schirm den peruanischen Schiedsrichter Yamasaki beschimpften, der Deutschland den Halbfinalsieg gegen die Italiener nicht gönnen wollte.
Keine Ahnung, ob ich damals tiefgehende Gespräche mit Eltern oder Freunden führte, doch nie vergesse ich Ernst Hubertys Ausruf „Ausgerechnet Schnellinger“, als die Mannen um Franz Beckenbauer trotz Yamasaki ausglichen. Jedes Leben braucht Halt – und was spricht dagegen, wenn Europameisterschaften, Relegationsspiele oder Pokalendspiele diesen uns geben?
Fußball setzt Gefühle frei. „Big boys don’t cry“ – diese Erkenntnis hat auch in unserer feminisierten, queerer gewordenen Gesellschaft wenig an Wahrheit verloren. Außer auf dem Fußballplatz: Der erfahrungsgemäß gefühlsscheue Mann bekennt sich zur Emotion. Während er zu Hause auf die Nachfrage der Ehefrau „Woran denkst du gerade? Was bewegt dich im Moment?“ minutenlang schweigen kann, bricht es aus ihm heraus, sobald Rasentriumphe oder -desaster nahen. Auch mir geht es nicht anders: Kaum getrocknet sind meine Tränen aus der Spielzeit 1969/70, als mein Verein, die Münchner Löwen, erstmals absteigen mussten.
Fußball leert den Kopf
Ich bin damit nicht allein. Der Schriftsteller Gerhard Henschel weiß in seinem autobiografischen „Kindheitsroman“ davon zu berichten, wie er als Zwölfjähriger mit bundesrepublikanischer Sozialisation nach der Niederlage gegen die DDR schier verzweifeln wollte: „Das Spiel war ein Riesenreinfall. Grabowski holzte daneben, Müller traf nur den Pfosten, und als dann auch noch Sparwasser ein Tor für die DDR schoss, hatte ich ein Kotzgefühl, das noch tagelang anhielt, obwohl inzwischen Sommerferien waren und ich zwei Einsen im Zeugnis hatte. Weltmeister waren wir zuletzt 1954 geworden, acht Jahre vor meiner Geburt, und es war ungerecht, dass wir jetzt, wo ich am Leben war, nur noch Pech haben sollten.“ Wo, bitte, sind Erregungen dieser Art sonst möglich?
Fußball leert den Kopf. Wir alle haben zu viel um die Ohren. Dafür muss es einen Ausgleich für die geplagte Seele geben, der uns für die Ochsentour des Lebens stark macht. „Fußball leert den Kopf. Radikal und komplett“, so hat der Journalist und VfL-Bochum-Anhänger Christoph Biermann diesen segensreichen Ausgleich genannt: „Für neunzig Minuten gibt es kein Grübeln und keine Gedanken, die über das Spiel hinausgehen.“ Nur beim Fußball, behaupte ich mal, entfaltet sich, was Biermann eine „leichte, schwebende Leere“ nennt. Andernorts nennt man diesen Erleuchtungszustand „Glück“, diese blitzartige Erfahrung völliger Harmonie und völligen Einsseins mit sich und der Welt. Zumindest, bis unser Ausgleichstreffer aus unerfindlichen Gründen aberkannt wird oder der forminstabile Manuel Neuer im entscheidenden Vorrundenspiel einen kapitalen Bock schießt. Doch bis zur Rückkehr des Grübelns und Räsonierens genießen wir die Woge der Leichtigkeit, hoffentlich auch in den vor uns stehenden Wochen der Europameisterschaft.
Fußballliterat Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren, amtierte in jungen Jahren in Bretzfeld, Winnenden oder Knittlingen als Fußball-Schiedsrichter und leitet heute das Literaturhaus Hamburg. Er hat mehrere Fußballbücher veröffentlicht und zuletzt den fast gänzlich fußballfreien Roman „Vielleicht die letzte Liebe“ (Kampa-Verlag, Zürich).