Seit fast 30 Jahren zieht Wolfgang Kimmig-Liebe als Nikolaus aus und bringt Bedürftigen Friede, Freude und Lebkuchen. Im Laufe der Jahre hat das historische Vorbild unvorstellbaren Einfluss auf sein Leben genommen

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart/Böblingen - Niemand fragt nach. Als wäre das alles ganz normal. Dass ein Mann mit zottellangem Bart, goldenem Umhang und langem Bischofsstab im Zimmer steht und dem verletzten Jungen aus Kuwait zuruft: „Ich bringe dir Allahs Segen.“ Dann das: ein Vater legt dem Mann, der vor ihm auftaucht, ohne zu zögern, sein herzkrankes Baby auf den Arm und strahlt, als dieser sagt: „Ich habe ihm so viel Kraft gegeben, dass alles andere von selbst kommt.“ Und eine Großmutter bekreuzigt sich sogar, nachdem der Unbekannte „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ ein Gebet am Bett ihres pflegebedürftigen Enkels gesprochen hat. Nur ein Mal gibt es eine Frage. Als sich der verkleidete Mann einer jungen Frau vorstellt, die zu ihm in den Aufzug steigt: „Ich bin der Nikolaus“, spricht er. „Der echte?“, erkundigt sich die Frau. „Der allerechte“, versichert der Mann. Keine weiteren Fragen. Wäre das auch geklärt.

 
Ankunft in der Türkei. Foto: Hetke

Im Pass dieses Mannes steht der Name Wolfgang Kimmig-Liebe. Er ist 61 Jahre, hat einen Meister als Kraftfahrzeugmechaniker und lebt in Böblingen. Über Kimmig-Liebe wurde schon öfter in der Zeitung berichtet. Seit bald 30 Jahren verkleidet er sich in der Adventszeit als Nikolaus und zieht durch Kindergärten, Pflegeheime und Krankenhäuser, um Frieden und Freude und Lebkuchen zu bringen. Dieser Tag Anfang Dezember ist für das Olgäle in Stuttgart reserviert.

Doch seine Mission hat sich in all den Jahrzehnten verändert. In den vergangenen zwei Jahren sogar so sehr, dass er seinem Vorbild, dem heiligen Nikolaus, immer nähergekommen ist. Er hat keine Ehefrau mehr, zurzeit keine profane Arbeit, und sein gesamtes Erspartes hat er weggegeben.

Ist das wirklich alles normal?

Die Frage, die man dem Mann hinter dem weißen Bart aus echtem Büffelhaar deshalb schon auch stellen könnte, wäre, ob das wirklich alles ganz normal ist.

Wolfgang Kimmig-Liebes Nikolaus hat beim Papst eine Audienz und eine Segnung erhalten. Es gelang ihm, einem palästinensischen Ministerpräsidenten die Hand zu reichen und ihm „I love you“ zu bekunden. Das deutsche, italienische, türkische und das amerikanische Fernsehen berichtete über ihn. Und die Frau des ehemaligen türkischen Kultusministers bewirtete ihn auf ihrem Anwesen in Demre königlich. Demre, dort ist Wolfgang Kimmig-Liebe besonders gerne. Das ist die Stadt, die Myra hieß, als der historische Nikolaus dort als Bischof wirkte.

Fotos zeigen Kimmig-Liebe als Nikolaus im alten Hafen und in der einstigen Kornkammer. Er steht umringt von Touristen in der Nikolauskirche oder umgeben von Spielern des FC Demre auf einem Fußballplatz. Manchmal betet er in einer Moschee oder gibt eine Pressekonferenz mit einem Politiker. Er singt mit türkischen Kindern „Lasst uns froh-o u-hund munter sein“ und wandelt durch die Ruinen des einstigen Parlaments von Patara, der Geburtsstadt seines Vorbildes. „Hier wäre ich geboren“, erklärt Kimmig-Liebe unter seinem Gewand in einem Video auf Youtube, „wenn ich der echte Sankt Nikolaus wäre.“

Erweckungserlebnis im Krankenhaus

Der echte Nikolaus lebte im dritten Jahrhundert und entwickelte sich lange, lange nach seinem Tod zu einem sehr gefragten Schutzheiligen für fast alle Lebenslagen. Wolfgang Kimmig-Liebe entdeckte den Patron nach einem Erlebnis, das als Erweckungserlebnis in sein persönliches Geschichtsbuch eingegangen ist. Bei einem Besuch seiner Mutter im Krankenhaus dauerte ihn die teilnahmslose Patientin im Nachbarbett so sehr, dass er sich zu ihr setzte und ihre Hand streichelte. Unvermittelt sprach die kranke Dame „Weihnachtsmann“. Wolfgang Kimmig-Liebe begann, dem Mann nachzuspüren und schließlich ihm nachzueifern. Inzwischen ist Wolfgang Kimmig-Liebe so weit, dass er sagt: „Ich bin einer seiner Nachfolger.“ Und: „Ich muss nicht mehr überlegen, was würde der Nikolaus tun – er ist immer da.“ Und sogar: „Wenn ich als Nikolaus in der Türkei bin, habe ich das Gefühl, dass ich er bin.“

Seine weihnachtliche Mission dauert dieses Jahr vom 20. November bis zum 23. Dezember. Kimmig-Liebe besucht Kindergärten in Sindelfingen und im Schwarzwald. Kranke in Stuttgart und Flüchtlinge in Köln. Weihnachtsmärkte in Böblingen und Hamburg. Wer seinen Nikolaus zur Beglückung Bedürftiger ruft, zu dem kommt er. Und wenn die Bedürftigen in Rom liegen, in New York oder in Gaza, dann reist er eben – ein großer Sponsor macht’s möglich – dorthin.

Der Nikolaus wird überall herzlich begrüßt

Wo Wolfgang Kimmig-Liebe als Nikolaus auftaucht, wird er als „wunderbarer Mann“ gewürdigt, er erhält Lob für seine „wunderschöne Idee“ und Preis für sein „großes Herz“. Die dunkle Seite der Pracht sieht lange nicht einmal Kimmig-Liebe selbst: der Nikolaus zerstört seine Ehe. Seine Frau ist des Typen überdrüssig, der sich nach und nach dauerhaft in ihrem Haus eingenistet hat. Kimmig-Liebes Nikolaus ist ja längst auch unterm Jahr unterwegs. Fast immer reist er im Mai in die Türkei, zum Geburtstag des Vorbilds. Wird er zur Einweihung eines Einkaufszentrums gebeten oder zur Segnung orthodoxer Ehepaare, steigt er in den Flieger. Und entscheidet er, ein Fußballturnier in Nazareth wäre eine feine Sache für die Völkerverständigung, dann geht es eben nach Israel. Dass ihr Wolfgang seinen gesamten Jahresurlaub für das Stiften von Frieden und Freude drangibt, nimmt die Gemahlin lange hin. Ebenso, dass er kurzerhand einen palästinensischen Jungen in die Familie aufnimmt. Aber dann hat sie genug von ihrem, man kann es wohl so nennen, Nebenbuhler.

Der wahre Nikolaus hat der Legende nach drei junge Frauen vor der Prostitution bewahrt. Er hat die Bevölkerung von Myra aus einer Hungersnot gerettet. Und, so ist es neben manch anderem überliefert, er erweckte sogar drei ermordete und eingepökelte Schüler wieder zum Leben. Doch bei Wolfgang Kimmig-Liebe geschieht kein Wunder. Nach 34 Jahren zerbricht seine Ehe. Und als ob die Trauer darüber nicht schwer genug zu ertragen wäre, verliert Wolfgang Kimmig-Liebe auch noch seine Arbeit. Über diesen Verlust sagt er nicht viel. Das ist Teil einer Abmachung mit seinem ehemaligen Arbeitgeber, mit dem sich der Entlassene letztlich halbwegs gütlich geeinigt hat. Nur so viel: die vergangenen eineinhalb Jahre waren schlimm. „Ich weiß jetzt, wie der Mensch als Mensch leidet“, sagt Wolfgang Kimmig-Liebe. Oder hat das vielleicht so sein müssen? Ist der Mann, der Nächstenliebe predigt und dabei vergisst, seine Nächste zu lieben, geprüft worden? Wenn er heute als Nikolaus an einem Krankenbett mit tiefer Stimme sagt: „Gerade wenn es aussieht, als ob die Welt zusammenbricht, fängt sie wieder neu an“ – dann fühle sich das ganz anders an als früher.

Im Labyrinth der Tränen

Wolfgang Kimmig-Liebe lässt sein Familienleben hinter sich. Sein Haus in Aidlingen überschreibt er seinem Sohn. Sein angespartes Vermögen schenkt er seiner Tochter. Mit nichts außer einer großen Ladung Probleme zieht er in eine kleine Wohnung in Böblingen. Er muss lernen, sich selbst zu versorgen. Er muss erkennen, dass er, der Kümmerer, ein Egoist war. Er muss eine Arbeit finden. Doch jeder Bewerbung folgt eine Absage. In den ungezählten Stunden mit sich selbst wandert er immer tiefer in ein Labyrinth aus Tränen, Verzweiflung und Zorn. Dann entdeckt Wolfgang Kimmig-Liebe den Sport.

Wenn man möchte, kann man darin ein hübsches Symbol erkennen: In der Zeit, in der er in einem selbstzerstörerischen Strudel steckt, beginnt Wolfgang Kimmig-Liebe zu schwimmen. Er schwimmt, was das Zeug hält. Tag um Tag steigt er ins Becken, mindestens einmal. Bahn um Bahn zieht er sich durch, wenn es sein muss beachtliche zwei Kilometer. Als er fertig ist, hat er 36 Kilo abgenommen und seinen seelischen Ballast aufgearbeitet. Und er kann inbrünstiger denn je sagen: „Man muss den Mut haben, seinen Weg zu gehen.“

Die Macht des Glaubens

Wolfgang Kimmig-Liebe ist inzwischen zum Ehrenbürger von Demre ernannt worden. Und auf seinem rechten Oberarm macht sich ein Abbild des heiligen Nikolaus breit. Das Tattoo hat er sich auf Geheiß des Bürgermeisters stechen lassen. Damit man im Falle seines Todes sicher sein kann, es mit dem richtigen Nikolaus-Wolfgang zu tun zu haben. Selbst wenn sein Leichnam ohne Kopf gefunden werden sollte. Schließlich wollen die Herren von Demre nicht den falschen in das Grab legen, das sich ihr Nikolaus-Wolfgang reservieren ließ. Acht Jahre nach seinem Tod, so sein Wunsch, sollen seine Gebeine dann in einem Sarkophag in der Nikolauskirche aufbewahrt werden.

Happy End für Wolfgang Kimmig-Liebe?

Es gibt einen Film, der heißt „Das Wunder von Manhattan“. Er handelt von einem Kaufhaus-Weihnachtsmann, der die Menschen glauben machen will, er sei der echte Weihnachtsmann. Er landet beinahe in der Psychiatrie. Doch wider Erwarten erklärt ihn das Gericht nicht für unzurechnungsfähig. Wer ohne einen Beweis seiner Existenz an Gott glaube, könne auch ohne Beweis seiner Existenz an den Weihnachtsmann glauben, urteilt der Richter. Manhattan jubelt. Happy End.

Abgesehen davon, dass der Weihnachtsmann nicht der Nikolaus ist, muss die Botschaft Wolfgang Kimmig-Liebe natürlich gefallen: Der Glaube an das Gute bewirkt Gutes.

Vor zwei Monaten hat Kimmig-Liebe im Schwimmbad eine neue Gefährtin kennengelernt. Ab Januar hat er einen Job in einer Sicherheitsfirma. Happy End? Schön wär’s.