Ein intimer Dokumentarfilm rüttelt am Mythos um Michael Hutchence, den früh verstorbenen Popstar und Sänger der australischen Band INXS.
Stuttgart - Von einem Selbstmord wollte Paula Yates, die letzte Lebensgefährtin des INXS-Frontmanns Michael Hutchence, nichts hören. Dabei war ihr Freund, der Vater von Yates’ Tochter Tiger Lily, am 22. November 1997 erhängt in seinem Hotelzimmer aufgefunden worden. Hutchence habe sich zur sexuellen Luststeigerung selbst stranguliert, behauptete Yates, es handele sich um einen autoerotischen Unfall, ihr Geliebter sei „gefährlich und wild“ gewesen. Doch die Ermittlungen zum frühen Ableben des Rockstars mit nur 37 Jahren ergaben ein anderes, trauriges Bild. Yates’ fast verzweifelte Beteuerungen, Hutchence sei einen Rock’n’Roll-Tod gestorben, sollten wohl das damals schon angekratzte Image des offensichtlich lebensmüden Sängers retten.
Geschichten wie die des am 22. Januar 1960 in Sydney geborenen Michael Kelland John Hutchence sind Legion im Popbusiness, und sie werden zur morbiden Publikumsunterhaltung nach den immer gleichen Parametern von Aufstieg, Ruhm und tiefem Fall erzählt. Nur ein tragisch gestorbener Star kann zum Mythos und so wieder unsterblich werden – eine grausame Faustregel, die auf Verblichene wie Marilyn Monroe, Jimmy Hendrix, Amy Winehouse oder Avicii zutrifft.
Der Filmemacher war ein Freund des Stars
Wäre Hutchence nicht 1997 ums Leben gekommen, hätte er vor wenigen Tagen seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Das Image des ewigen Sexidols wäre verblasst vor Bildern eines vielleicht inzwischen etwas knittrigen, älteren Mannes, dessen Stern im Showgeschäft schon zur Mitte der 90er zu sinken begann – als jüngere und wildere Musiker die Szene stürmten und Stile wie Brit-Pop und Grunge den Pop Rock, New Wave und New Romanticism von Duran Duran, Spandau Ballet, Ultra Vox, Tears for Fears und eben auch INXS alt klingen ließen.
Der australische Filmemacher Richard Lowenstein war verantwortlich für solch berühmte INXS-Musikvideos wie „Need you tonight“, „Suicide Blonde“ oder „New Sensation“ und nah dran an der Band, noch dazu befreundet mit dem nicht einmal ein Jahr jüngeren Michael Hutchence. Damals bastelte Lowenstein fleißig mit am Profil des Bandleaders, der vor allem weibliche Fans mit Charisma und Sexappeal binnen eines Wimpernschlags in seinen Bann schlug. Mehr als 20 Jahre nach dem Tod des Freundes betrachtet Lowenstein dessen Biografie in einem anderen Licht im frisch gestarteten Dokumentarfilm „Mystify: Michael Hutchence“.
Die Zuschauer werden zu Voyeuren
Darin kommt die Privatperson hinter der Bühnenfigur zu Wort. Lowenstein bringt auch Ex-Freundinnen von Hutchence zum Reden, die Sängerin Kylie Minogue, das Modell Helena Christensen. Der Film enthält intimste Szenen, die Hutchence selbst aufnahm, darunter Bilder der noch mädchenhaften, nackten Kylie Minogue im Badezimmer. Hutchence’ körperlose Stimme scherzt aus dem Off – beklemmend authentische Eindrücke sind das, die Zuschauer werden zu Voyeuren eines fremden Lebens.
Man kann das pietätlos finden, doch Lowenstein gelingt etwas Außergewöhnliches: Anhand des sehr persönlichen Zugriffs auf Hutchence’ Biografie befreit er den Menschen von den Versatzstücken einer von Marketingstrategen konstruierten Scheinidentität und erzählt eine wesentlich glaubwürdigere Variante der alten Mär, wie aus einem fast normalen Kind zunächst ein Star und schließlich ein trauriges Wrack werden konnte. Letztlich verwundert es nicht, dass Hutchence sich weniger im rasanten Lifestyle von Sex, Drugs und Rock’n’Roll lustvoll selbst verschwendete, sondern durch die Erfahrungen innerhalb einer dysfunktionalen Familie eine verletzlich-depressive Disposition entwickelte.
Der Mädchenmagnet war ein intellektueller Schöngeist
Die Musik von INXS besitzt nur wenig Tiefe, dafür Energie und lebensbejahenden Optimismus. Lowenstein porträtiert Hutchence als schüchternen Menschen, der seinen vorzeitigen Schulabgang zugunsten der Karriere durch die Beschäftigung mit Literatur und Philosophie zu kompensieren versuchte. Während er auf der Bühne und in den auf Hochglanz polierten MTV-Clips als sexuell attraktiver Mädchenmagnet posiert, zeigt er sich in den Privataufnahmen als intellektueller Schöngeist, der feste Beziehungen aus Unsicherheit und Verlustangst nach einer Weile selbst untergräbt.
Die Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas, erhellt Lowenstein, tragen ab 1992 zu einer massiven Verschlechterung von Hutchence’ psychischer Gesundheit bei. Als er im Rahmen der britischen TV-Show „The Big Breakfast“ Paula Yates kennenlernt, die damalige Frau des Boomtown-Rats-Kopfes Bob Geldof, sind die depressiven Episoden kurzzeitig Geschichte. Doch im folgenden Scheidungs- und Sorgerechtskrieg wird der ausgelaugte Musiker als Kollateralschaden mit aufgerieben. Zu Paula Yates’ Ideal des potenten Rockers passte das gar nicht. Im September 2000 starb auch sie – an einer Überdosis Heroin, in Folge eines „unvorsichtigen und dummen Umgangs“ mit dem Gift, wie es der Leichenbeschauer nannte. Ein Unfall, wohlgemerkt, kein Suizid.
Die Doku „Mystify: Michael Hutchence“ ist ab 12 Jahren freigegeben und OmU im Delphi zu sehen.