Jörg Frauhammer ist etwas gelungen, was selten jemandem gelingt: Der Bürger ist zum Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Gemmrigheim gewählt worden. Sein deutlicher Sieg hat ihn selbst überrascht. Aber er weiß: Viel Nähe birgt ein großes Risiko.

Region: Verena Mayer (ena)

Gemmrigheim - Als erstes steht ein Gespräch mit seinen Amtsleitern an. Dann muss die nächste Sitzung des Gemeinderats vorbereitet werden. Ein betagtes Geburtstagskind wird Jörg Frauhammer an diesem Donnerstag beehren und ein goldenes Hochzeitspaar. Irgendwann wird er wahrscheinlich noch eine kleine Begrüßungsrede halten, in der er sagt, dass er sich auf die neue Herausforderung freut, und dass er nicht vorhabe, das Oberste zuunterst zu kehren. Allerdings: Allein die Tatsache, dass nun Jörg Frauhammer der Chef im Gemmrigheimer Rathaus ist, entspricht schon einem ziemlichen Rundumschlag.

 

Der Neue ist mit dem halben Ort per Du

Monika Chef, die seit Mittwoch offiziell im Ruhestand ist, war nie so richtig warm geworden mit den Gemmrigheimern. Man nannte sie auch „Die Fürstin“. Seit ihr Mann vor zwölf Jahren im Hohenlohischen Bürgermeister wurde, wohnte Monika Chef nicht mal mehr in dem kleinen Ort im Norden des Ludwigsburger Kreises. Jörg Frauhammer hingegen ist in Gemmrigheim geboren, in den Kindergarten und in die Schule gegangen. Er sitzt dem Musikverein vor und ist Mitglied in mehreren anderen Vereinen. Seit 29 Jahren macht er für die SPD im Gemeinderat Kommunalpolitik, seit 13 Jahren ist er stellvertretender Bürgermeister. „Ich bin mit dem halben Ort per Du“, bekennt der promovierte Ingenieur, der nun hauptamtlicher Bürgermeister ist.

Gleich im ersten Wahlgang hat der 53-Jährige die Sache entschieden. Mehr als 58 Prozent der Bürger wählten ihn zu ihrem neuen Meister, trotz mehrerer teilweise achtbarer Gegenkandidaten – und zu seinem eigenen Erstaunen. „Ich konnte nicht davon ausgehen, dass das ein Durchmarsch wird“, sagt Frauhammer im Rückblick. Denn auch er weiß: „Durch die große Nähe können auch Probleme entstehen.“

Womöglich kommt ein guter Kumpel nun auf die Idee, den Bürgermeister zu bitten, seinen Strafzettel doch einfach zu vergessen. Oder der liebe Nachbar fordert ganz informell eine Genehmigung für seinen Hausanbau. Oder ein langjähriger Vereinsfreund bittet, weil man sich doch schon ewig kennt, um einen Zuschuss fürs Sommerfest. Und womöglich fällt es Freund Jörg dann schwer, Nein zu sagen?

Der Verwaltungsexperte mahnt

„Man muss sich schon im Klaren darüber sein, dass man der Bürgermeister aller Bürger ist“, sagt Arne Pautsch, der an der Ludwigsburger Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen eine Professur für Öffentliches Recht und Kommunalwissenschaften hat. In allen Kreisen eines Ort präsent zu sein spreche nicht automatisch dafür, der geborene Bürgermeister zu sein. Grundsätzlich, sagt Pautsch, der selbst mal Bürgermeister gewesen ist, sei es besser, wenn ein unabhängiger, neutraler Kandidat von außen kommt – noch dazu mit einer einschlägigen Ausbildung an einer der zwei Verwaltungshochschulen des Landes. Es sei, sagt Pautsch, ein ungeschriebenes Gesetz, dass das Bürgermeister-Amt von Personen auszuführen ist, die fachlich dazu befähigt sind.

Ein Blick nach Asperg: Dort besiegte vergangenen September der Diplom-Verwaltungswirt Christian Eiberger glasklar den Betriebsratsvorsitzenden einer Daimler-Tochter und „Asperger Bub“ Marc Thomas Bauer. Ein Blick nach Ebersbach (Kreis Göppingen): Dort setzte sich vor einem Jahr der auswärtige Verwaltungsfachmann Eberhard Keller gegen drei Lokalmatadore durch. Ein Blick nach Leonberg (Kreis Böblingen): Dort machte im Herbst der externe Verwaltungsprofi Martin Kaufmann überraschend deutlich das Rennen gegen die einheimische Expertin Inge Horn. In Denkendorf (Kreis Esslingen) überholte der Verwaltungsfachmann Ralf Barth im Februar überdeutlich den Einheimischen Frank Nödinger. Und in Remshalden (Rems-Murr-Kreis) gewann der externe Profi Reinhard Molt gegen vier teilweise einheimische Quereinsteiger.

Große Nähe als Chance?

Jörg Frauhammer in Gemmrigheim sagt, er wisse, dass die Statistik gegen ihn spricht. Er sagt aber auch: „Ich bin davon überzeugt: Nähe macht vieles einfacher.“ Konflikte zum Beispiel ließen sich dadurch auf einer anderen Ebene angehen und lösen. Respekt sei keine Frage von Du oder Sie. Und zur Not, meint der Kommunalpolitiker, „fliegen halt mal die Fetzen“. Gerade weil man sich kenne, könne man danach auch gut wieder zusammenfinden. Woanders funktioniere das ja auch.

Tatsächlich ist das ungeschriebene Gesetz, das auf dem Chefsessel einen externen Fachmann vorschreibt, vor allem im württembergischen Teil des Landes gültig. Eine Statistik wird zwar in keinem kommunalen Spitzenverband geführt, aber für die Experten besagt ein weiteres ungeschriebenes Gesetz: In Baden haben auch Einheimische eine Chance. Jüngstes Beispiel: Freiburg. Dort schlug sich die grüne Stadträtin Monika Stein auch im zweiten OB-Wahlgang mit mehr als 26 Prozent ausgesprochen achtbar.

Diese auf den ersten Blick rätselhafte Teilung ist laut dem Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling historisch begründet, und zwar im badischen Kulturkampf. Die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, zwischen Katholizismus und Protestantismus und zwischen Verfechtern unterschiedlicher Herrschaftsformen Mitte des 19. Jahrhunderts habe eine klare Priorisierung bei der Wahl von Anführern zur Folge gehabt: Der Stärkste soll es machen. Dieser, so Wehling, sei eben häufig ein gut vernetzter Einheimischer.

Ausnahmen von der Regel

Ist Gemmrigheim, wegen seines Protests gegen das atomare Zwischenlager auch als gallisches Dorf berüchtigt, mit seiner Wahl also einfach seinem Ruf gerecht geworden? Oder hat die Gemeinde endlich zu ihrer Bestimmung gefunden? Bereits bei den zwei zurückliegenden Wahlen hat ein Einheimischer um das höchste Amt in der 4200-Einwohner-Kommune gekämpft.

Oder zeichnet sich eine neue Gesetzmäßigkeit ab? Ingolf Welte hat in Nufringen (Kreis Böblingen) bereits gezeigt, dass auch ein einheimischer Polizeikommissar Bürgermeister werden kann. Und Stefan Belz aus Böblingen hat gar bewiesen, dass man als Raumfahrtingenieur und grüner Stadtrat den Amtsinhaber besiegen kann.

Man wird sehen. Auch ein externer Schultes muss vor Vetterleswirtschaft nicht gefeit sein. Und wenn der einheimische Bürgermeister mit allen bekannt ist, kann sich zumindest niemand benachteiligt fühlen. Arne Pautsch von der Verwaltungshochschule meint, solche Entwicklungen könne man auch begrüßen. Sie zeigten die Vielfältigkeit der kommunalen Selbstverwaltung. Oder wie es Jörg Frauhammer formuliert: „Es ist noch kein Bürgermeister vom Himmel gefallen.“

Offiziell ins Amt eingeführt wird der neue Bürgermeister erst am 1. Juli. Bis dahin hat er vielleicht auch eine Lösung für seinen Musikverein gefunden. Dessen Vorsitz wollte Frauhammer längst abgeben.