Pendeln zum Arbeitsplatz 7000 Stunden zwischen Stuttgart und Dresden
Das Beste aus StZ-Plus 2018: Seit 14 Jahren fährt Rüdiger Hofmann von Dresden nach Stuttgart zur Arbeit. Eine Tour mit dem 62-jährigen Bauingenieur.
Das Beste aus StZ-Plus 2018: Seit 14 Jahren fährt Rüdiger Hofmann von Dresden nach Stuttgart zur Arbeit. Eine Tour mit dem 62-jährigen Bauingenieur.
Stuttgart - Um 5 Uhr morgens biegt Rüdiger Hofmann auf die A 4 ein und tritt das Gaspedal durch. Der dunkle Wagen rauscht über nachtschwarzen Asphalt. Draußen Nieselregen und Kälte, drinnen 22 Grad und der Geruch von Ledersitzen. Der Innenraum des 5er-BMW Touring ist erfüllt von Klaviermusik aus dem Radio, Hofmann hat MDR Klassik eingeschaltet.
508 Kilometer liegen vor ihm, ein Arbeitsweg quer durch die Republik, quer durch die Sendefrequenzen. Jeden Montag bricht der 62-jährige Bauingenieur von Dresden auf, um seine Arbeitswoche in Stuttgart zu verbringen. Hofmann ist dieses Leben gewöhnt, seit 14 Jahren kennt er es nicht anders.
Unter den Pendlern zwischen den alten und den neuen Bundesländern hat eine halbe Million Menschen dieselbe Fahrtrichtung wie er: von Ost nach West. Manche fahren nur von Plauen bis Hof, andere so weit, dass sie von Montag bis Freitag in einer Zweitwohnung leben. „Ich habe mal einen kennengelernt, der pendelt von Dresden bis an den Bodensee“, erzählt Hofmann. Fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist die ehemalige innerdeutsche Grenze wie eine Membran, die in die eine Richtung weniger durchlässig ist. Allein 11 000 Sachsen haben ihren Job in Baden-Württemberg.
Hofmann ist einer von ihnen. Wegen der weißen Bartstoppeln, der Glatze und der drahtigen Figur ähnelt er dem Abenteurer Rüdiger Nehberg. Gerne redet er über Wanderungen und kleine Urlaube – Dinge, aus denen er Energie zieht. Kürzlich war er mit seiner Ehefrau Anne und ein paar Freunden in Radebeul an der Elbe: „Die Weinberge dort gefallen uns gut“, sagt er. 28 Jahre Ehe haben seine Sätze geprägt, oft enthalten sie ein „uns“, ein „wir“. Wir, die Anne und ich. Wir, die Familie, Johannes und Charlotte, die zwei Kinder. Wir, die Freunde, die gerne wandern. Das gemütliche Einfamilienhaus mit den vielen Fotos an den Wänden, der kleine Schrebergarten mit dem angebauten Gemüse: All das findet in Dresden statt, von Freitagabend bis Sonntagnacht. Ab Montag früh zehrt das „wir“ von Erinnerungen, Telefonaten, Vorfreude.
Gestern nach der Wanderung habe noch ein Freund angerufen und zu einer Geburtstagsfeier eingeladen: „Rüdiger, kommt doch abends vorbei, wir sitzen ein bisschen.“ Aber er lehnte ab, auch die Wanderung sei eine Ausnahme gewesen. „Normalerweise nehmen wir uns sonntags Zeit für uns“, sagt er lächelnd und mit sonorer Stimme, während ihn der BMW 170 Kilometer pro Stunde voranbringt.
Hofmann überquert die Grenze von Sachsen nach Bayern, vorbei an zwei Schildern: „Auf Wiedersehen in . . .“, „Willkommen in . . .“
Bis 2003 hatte er Großbaustellen in Dresden und Leipzig geleitet, vor allem im Gewerbebau. „Aber plötzlich war das ziemlich am Boden.“ Die Aufträge gingen zurück, kurz darauf wurde ihm gekündigt. „Ich habe mich dann erst nur in der Region beworben, aber die Angebote waren schlecht bezahlt, die Arbeitsbedingungen miserabel.“ Vier Monate war er arbeitslos, dann ging er nach Stuttgart zur Firma Kocher, die Hochregale für Logistikzentren baut. Als Projektbetreuer plant er dort Hallen, die so groß wie Fußballstadien sind.
Die bessere Bezahlung habe dabei zwar eine Rolle gespielt, sei aber nicht ausschlaggebend gewesen, sagt Rüdiger Hofmann. „Das ist wirklich ein guter Job. Einer, den ich in Sachsen nicht finden konnte.“ Sicherheit war ihm wichtig, das Gefühl, dass es nach dem nächsten Projekt weitergeht, dass es der Firma gut geht. „Die Industrie in den alten Bundesländern ist über eine längere Zeit gewachsen, tiefer verwurzelt“, sagt er.
Kein einziges der dreißig Dax-Unternehmen ist in den neuen Bundesländern registriert, das durchschnittliche Monatseinkommen ist in vielen Berufen noch immer ein paar Hundert Euro geringer. „Die Betriebe im Westen zeigen mehr, was ihnen ihre Leute wert sind. Bei der Bezahlung, aber auch im Umgang miteinander“, findet Hofmann. Es ist kein Klagen in seiner Stimme. Es ist die Feststellung eines Menschen, der fünf Tage die Woche seine Familie nicht sieht, um seinen guten Arbeitsplatz zu halten. „Ich hatte nach der Wende gehofft, dass sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West mit der Zeit ausgleichen“, sagt Rüdiger Hofmann. „Aber das ist leider nicht passiert.“
Nebel hängt zwischen Fichten bei Bayreuth, die Dämmerung weicht dem Tageslicht. MDR Klassik rauscht nur noch, Rüdiger Hofmann schaltet auf Bayern 3. Sein Blick wandert immer wieder zum Navigationsgerät, das die voraussichtliche Ankunftszeit zeigt. Alles zwischen 10 und 11 Uhr ist gut, alles nach 12 Uhr ist schlecht: „Jede Stunde Verspätung bleibe ich abends länger im Büro.“
Seine Ehefrau Anne ist jetzt wach, mehrere Hundert Kilometer nordöstlich. Er weiß, dass sie mit einem Ohr die Verkehrsnachrichten im Radio hört, während sie in den Tag startet. Er weiß auch, dass sie sich Sorgen macht, wenn Unfälle auf der A 4, der A 72, der A 9, der A 6 oder der A 81 gemeldet werden. Und er weiß, dass sie immer erleichtert ist, wenn er am späten Vormittag kurz aus dem Büro anruft. In seinem Koffer liegt neben der Kleidung für die Woche, dem Gemüse aus dem eigenen Garten und einem Buch auch ein graues Nashorn. Ein Kuscheltier, das Rüdiger Hofmann als Glücksbringer von seiner Frau geschenkt bekommen hat und seither auf jede Autofahrt mitnimmt.
Einmal ist Hofmann knapp an einem Geisterfahrer vorbeigeschrammt. Mit mehr als hundert Sachen. „Danach habe ich gedacht: Heute bin ich das zweite Mal geboren worden“, sagt er und schweigt in das Auto hinein.
Dass die Familie 2004 mit nach Stuttgart ziehen würde, stand nicht zur Debatte. Die zwei Kinder steckten mitten im Abitur. Das Haus, die Freunde, der Schrebergarten, die Schwiegermutter – all das verband ihn mit seiner Heimat. Die Existenz, die er sich mit seiner Frau in den neunziger Jahren in Dresden aufgebaut hatte, wollte sie nicht so einfach aufgeben und woanders von vorne anfangen. Also ging Rüdiger Hofmann alleine nach Stuttgart.
„Anne hat wirklich viel zurückstecken müssen“, sagt er. „Wir haben viel über meinen neuen Arbeitsplatz gesprochen. Was das Pendeln für die Ehe bedeutet – und auch, dass viel an Anne hängenbleiben wird.“ Hängengeblieben ist an ihr der Haushalt, der Alltag mit den zwei Kindern, die mittlerweile aus dem Haus sind. Vorgeworfen habe sie ihm das jedoch nie. Sie telefonieren drei- oder viermal am Tag, meist nur wenige Minuten – „aber immerhin“, findet Rüdiger Hofmann. Am Wochenende versuchen sie, Freunden auch mal abzusagen und Zeit miteinander zu verbringen. „Manchmal ist das alles schwer zu kombinieren, aber so ist es halt“, sagt er schulterzuckend und macht damit klar, was man braucht, um so ein Leben zwischen zwei Orten zu führen: Pragmatismus.
Kurz hinter Nürnberg, nach 310 Kilometern: der erste und einzige Stopp. Nur eine Pinkelpause, danach fährt Hofmann direkt weiter. Er klemmt sich die Thermosflasche zwischen die Beine und trinkt den Schwarztee. Das Navigationsgerät zeigt eine Ankunftszeit von 10:21 Uhr. Er ist beruhigt.
Freunde hat er in Stuttgart nicht, abends bleibt er meist daheim. „Früher bin ich mal ins Theater, in eine Bar oder ins Kino. Mittlerweile gehe ich nur noch einmal die Woche in die Sauna.“ Seine Frau schenkt ihm oft Bücher, viele davon stehen noch original verpackt im Regal. „Ich lese die Seiten zwei- oder dreimal, weil ich zwischendurch einschlafe“, sagt er. Das Leben an zwei Orten, das jahrelange Pendeln: Die Erschöpfung ist ihm anzumerken.
Kurz vor Stuttgart ist die Autobahn frei, keine Baustelle, drei Spuren, der Straßenbelag rauscht unter den Reifen. Im Radio läuft nun SWR 2. Ein elfstündiger Arbeitstag wartet auf Rüdiger Hofmann, von vergangener Woche ist einiges liegengeblieben.
Als er Feierabend hat, ist es bereits kurz vor 22 Uhr. Rüdiger Hofmann betritt seine Einraumwohnung im Stuttgarter Norden. Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch, ein paar Bücher, ein Wasserkocher und ein Toaster. Die Wände weiß und kahl, dazwischen nackter Dielenfußboden. Er stellt seinen Koffer ab und sagt: „Andere pendeln ja noch weiter.“
Rüdiger Hofmann hat fast 7000 Stunden im Auto gesessen, seitdem er 2004 die Arbeit in Stuttgart angenommen hat. Noch vier Jahre bis zur Rente, dann wird er fast ein Jahr hinterm Steuer verbracht haben und etwa 18-mal die Erde umkreist haben. Aber so genau will er das gar nicht wissen.