Ulrich Fader aus Schramberg, Kapitän auf dem Kreuzer Hermann Rudolf Meyer, rettet regelmäßig Menschen in Seenot. Seinen Spitznamen „Spätzle“ ist er zwar los. „Aber wenn ich mit Muttern telefonier und wieder Schwäbisch schwätz dohanne am Disch, no saget se älle: Jetzt schwätzt er rückwärts.“

Bremerhaven/Schramberg - Die Wellen der sieben Grad kalten Nordsee schlagen über mir zusammen, doch der Überlebensanzug hebt mich wie einen Korken an die Oberfläche. Das Schiff, an dessen Reling ich bis eben stand, ist außer Reichweite. Die Strömung treibt mich ab.

 

Gut 30 Meter entfernt schaukelt die Christian auf den Wellen – bereit, mich aufzunehmen. Ich spüre Angst, als das Tochterboot des Seenotrettungskreuzers Hermann Rudolf Meyer direkt auf mich zuhält und in letzter Sekunde beidreht. Durch eine Tür in der Bordwand streckt mir der Seenotretter Klaus Frederking seine Hand entgegen, rücklings zieht er mich durch die Bergepforte ins Boot. Die Übung ist zu Ende.

Stunden zuvor im Alten Vorhafen von Bremerhaven: das warme Licht einer nostalgisch anmutenden Tischlampe strahlt gegen das trübe Grau vor den Bullaugen. Auf einer dunklen Ledereckbank sitzt Ulrich Fader, Vormann der Hermann Rudolf Meyer und damit Kapitän der vierköpfigen Besatzung. Der 50-Jährige ist der einzige Schwabe in der Flotte unter der Flagge mit dem roten Hansekreuz. Aufgewachsen ist Fader mitten im Schwarzwald, in Schramberg. Eigentlich wollte er Koch werden und ein Restaurant mit internationaler Küche führen. „Wo kann man dies besser lernen, als wenn man zur See fährt?“, fragt der stämmige Mann in roter Latzhose und roter Weste, es ist die auffallende Farbe seines Arbeitgebers, der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).

Auf seine Bewerbung hin erfuhr Fader, dass auf Schiffen keine Köche mehr ausgebildet werden. So lernte er Matrose bei der Reederei Hamburg Süd, unter anderem auf der Cap San Diego, die heute als Museumsschiff im Hamburger Hafen liegt. Just zum Ende seiner Ausbildung kam auch das Ende der Stückgutfracht. Der junge Seemann suchte bereits eine Anstellung an Land, als ein Freund ihm erzählte, er wolle zur DGzRS gehen. Aber am Einstellungstag war der mit einem Hochseeschlepper in der Irischen See unterwegs. Glück für Fader: der Freund überließ ihm seine Stelle.

14 Tage auf rund 30 Quadratmetern

Drei Jahrzehnte ist das nun her, obwohl Fader den Job ursprünglich als Übergangslösung betrachtete. Seinen anfänglichen Spitznamen „Spätzle“ ist der Schwarzwälder inzwischen los. „Aber wenn ich mit Muttern telefonier und wieder Schwäbisch schwätz dohanne am Disch, no saget se älle: Jetzt schwätzt er rückwärts.“

Die Messe dient der Besatzung als Wohn-, Ess- und Aufenthaltsraum. 14 Tage verbringt sie auf rund 30 Quadratmetern, dann ist Schichtwechsel: zwei Wochen frei. Immerhin gibt es Einzelkabinen.

Bei Einsätzen wird die Sitzgruppe umgebaut. „Bei uns kommen Verletzte direkt auf den Tisch“, sagt der Maschinist Wilm Willms. „Wir sind die Eier legende Wollmilchsau zwischen Feuerwehr, Rettungswagen und Bergungsdienst“, erklärt Ulrich Fader, der vor genau zehn Jahren Vormann wurde. In Schränken lagert die komplette Ausrüstung eines Rettungswagens. Bei medizinischen Einsätzen geht ein Notarzt mit an Bord, bei Schiffsbränden sind Einsatztrupps der Küstenfeuerwehr dabei.

Der tägliche Dienst sieht anders aus: 7 Uhr Wecken, dann Frühstück, von 8 Uhr an Instandhaltung des Rettungsgerätes: Maschinen, Tochterboot, Medizin. Ulrich Fader ist mit der Personalplanung und administrativen Tätigkeiten gut beschäftigt. „Die Seekarten sind nur Momentaufnahmen“, sagt er. An diesem Tag gehört es zu seinen Aufgaben, sie zu aktualisieren. Deshalb überlässt er seiner Besatzung die Vorstellung des „Dampfers“, wie Fader seinen Rettungskreuzer nennt.

Wenn der Blanke Hans tobt

Benannt ist die 23,1 Meter lange Hermann Rudolf Meyer nach einem Bremer Zeitungsverleger und Förderer der DGzRS. Seenotrettung ist meist Improvisation. Deshalb verfügt der Kreuzer über Werkzeug, Wasserwerfer, Rettungsleinenwurfgerät, Tauchpumpen und ein Luftpolster, „das aufgeblasen werden kann, wenn man ein Schiff, das am Sinken ist, sichern möchte“, wie Frederking erklärt. Fast dieselbe Ausrüstung befindet sich im Tochterboot. Dazu Keile und Bauschaum zum Abdichten von Leckagen. Die Löschpumpe des Kreuzers ist mehr als dreimal so stark wie die eines modernen Feuerwehrfahrzeugs.

36 Einsätze fuhr die Hermann Rudolf Meyer im vergangenen Jahr, 58 Menschen wurden gerettet. Zumeist handelte es sich um Motorausfälle oder Probleme mit der Takelage bei Sportbooten. Eine Segelyacht pumpten die Retter leer, dichteten sie ab und schleppten sie in den Hafen. Zweimal hat Fader bereits erlebt, dass im Nebel zwei Frachter kollidierten und sanken:  „Das muss man sich so vorstellen, dass die Brücke aus dem Wasser rausguckt, und die Jungs stehen trockenen Fußes dort. Da geht man längsseits und holt die da runter.“

Dramatischer geht es zu, wenn der Blanke Hans tobt. Im Orkan geriet vor einigen Jahren eine Segelyacht in Seenot – und ein Rettungskreuzer gleich mit. Eine Welle überrollte damals das DGzRS-Schiff, ein Mann wurde über Bord gespült und musste von einem Hubschrauber aus dem Meer gezogen werden. Fader gelang es, in schwerer See eine Leine an der Yacht anzubringen und sie in den Hafen zu schleppen.

Kontrollfahrt weserabwärts

Im Winter sind die Einsätze seltener. Die Lautsprecher des Notrufkanals 16 und der Revierkanäle sind zwar rund um die Uhr eingeschaltet, doch auch an diesem Dezembertag hallen nur die Windwarnungen der Radarlotsen und die Durchsagen an die Frachter durch die Kabine.

Der Vormann Fader hat eine Raucherpause beendet. „Dann machen wir jetzt Brumm“, weist er seine Mannschaft an. Der Maschinist Willms verschwindet, um die zwei jeweils 1350 PS starken Motoren zu starten. „Schwerer Raubkreuzer Hermann Rudolf Meyer in den Untiefen der Weser“, frotzelt Dieter Maaß, neben Klaus Frederking der zweite Ehrenamtliche des Törns.

Mehr als 2000 Einsätze fahren die Schiffe der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger pro Jahr, etwa 180 hauptberufliche Seenotretter tun auf den 20 Kreuzern Dienst. Hinzu kommen rund 800 Ehrenamtliche, die bei Alarm die 40 kleineren Boote an 54 Stationen zwischen Borkum und Usedom besetzen. Die Gesellschaft finanziert den Such- und Rettungsdienst – Search and Rescue genannt – fast komplett über Spenden.

Dröhnende Motoren

Die Crew findet sich auf der Brücke ein. „Hermann Rudolf geht vom Liegeplatz weg, macht eine Kontrollfahrt weserabwärts“, meldet Fader an Weser Traffic. In der Fahrrinne übergibt der Profi das Schiff an den Ehrenamtlichen Maaß. Der 59-Jährige steuert mit Autopilot.

Im Fall eines Einsatzes träfen die Männer nun ihre Vorbereitungen. „Dann hat man damit zu kämpfen, Informationen zu sammeln und zu verteilen“, erklärt Ulrich Fader seine Aufgabe auf der Brücke. Als Einsatzleiter koordiniert er alle Rettungsmaßnahmen. Anderthalb Stunden kann es dauern, bis die Hermann Rudolf Meyer einen Havaristen auf halber Strecke bis Helgoland erreicht – die ersten Seenotretter vor 150 Jahren waren in Ruderbooten drei Tage lang unterwegs. 2000 Quadratkilometer groß ist das Meeresrevier.

Dieter Maaß geht auf volle Fahrt. Es pfeift und braust im Heck des Rettungskreuzers, dann dröhnen die Motoren. Die unruhige See erzeugt bei 23,5 Knoten (43,5 Kilometer pro Stunde) ein Rütteln wie im Auto auf einer Holperpiste. Bei jeder Welle, in die das Schiff eintaucht, verbeugen sich die Seefahrer durch die Bremsverzögerung vor dem Meer, während das Wasser über die Fenster rauscht. Die drehenden Schleuderscheiben gewährleisten sofort wieder klare Sicht.

Eintopf unterm Infusionshaken

Ulrich Fader, in seinen Hausschuhen locker an einen Sitz gelehnt, erzählt: Die Handelsschifffahrt komme für ihn nicht mehr infrage, seit er Frau und zwei Kinder hat. Aber die See habe es ihm einfach angetan. „Das hier ist ein Berufsbild in der Seefahrt, bei dem ich auch Familie haben und soziale Kontakte pflegen kann.“ Dazu tragen vor allem die regelmäßigen Schichten bei. Doch die Einsätze steckt man nicht immer weg. „Wenn du eine Person im Wasser suchst und das Pech hast, dass du sie nicht findest, ist das sehr belastend. Solche Situationen versuchen wir zu besprechen. Wir überlegen immer, was man noch besser machen kann.“ Seinen Dampfer lässt Fader während des Redens niemals aus den Augen: „Dieter, gehst du rum!“, weist er den Kurs zum Ankerplatz im Wattenmeer an.

Punkt 12 Uhr steht ein kräftiger Eintopf auf dem Tisch der Messe. Unwillkürlich wandert mein Blick beim Essen zu den Infusionshaken an der Decke direkt darüber. Dann wird es für mich ernst: „Wir schmeißen Sie rein“, kündigt Fader an. Für die Mann-über-Bord-Übung lassen die Männer den üblichen Mittagsschlaf ausfallen.

Eine halbe Stunde später steuert Dieter Maaß das Tochterboot mit dem geretteten Stuttgarter-Zeitung-Reporter an Bord wieder auf die Rampe im Heck des Kreuzers. An Containerfrachtern vorbei geht es zurück nach Bremerhaven, wo die Hermann Rudolf Meyer um 16 Uhr anlegt.

Selbst wenn der Schwarzwälder Fader das Rentenalter erreicht hat, will er der Nordsee treu bleiben. Zusammen mit seiner Frau restauriert er bereits ein Segelboot. Falls er damit jemals Probleme bekommen sollte, weiß er, wen er rufen muss.