Die Politik stiehlt sich aus ihrer Verantwortung, wenn sie zu sehr auf Ehrenamtliche setzt, meint der Furtwangener Soziologieprofessor Stefan Selke.

Herr Selke, die Landesregierung lobt das Ehrenamt in den Himmel. Es kann gar nicht genug Freiwillige geben. Warum sehen Sie diese Entwicklung kritisch?
Weil sie in eine Freiwilligengesellschaft mündet. Das heißt, dass sich Menschen immer stärker verpflichtet fühlen, sich zu engagieren. Und dass freiwillige Leistungen geradezu Voraussetzung für soziale Akzeptanz werden, sei es im Betrieb oder in der Gesellschaft. Außerdem kalkuliert die Politik zunehmend mit diesen Diensten. Und sie aktiviert immer größere Potenziale durch fortwährendes Loben. Das ist vergleichbar mit der Wachstumsrhetorik in der Wirtschaft.
Hat sich schon jemals ein Mensch beklagt, dass er zum Ehrenamt gezwungen wurde?
Zwang ist ein dehnbarer Begriff. Es gibt subtile Formen, um Menschen zu etwas zu bringen. Man kann sie mit kleinen Belohnungen zu Verhaltensänderungen bewegen und erreichen, dass sie das freiwillig tun, was sie eigentlich tun sollen, und sich dabei auch noch wohl fühlen.
In diese Richtung bewegt sich die Ehrenamtskultur?
Ja. Da gibt es Ehrenamtspässe, Ehrenamtsversicherungen, Ehrenamtsmessen. Wir haben Preise, Auszeichnungen, Wettbewerbe. Das ganze Thema ist einer marktartigen Logik verfallen. Auch der Freiwilligensurvey, der jetzt vorgestellte wurde, ist ja nicht nur eine Übersicht, sondern auch ein Instrument der Steuerung. Er zeigt zum Beispiel die Lücken auf.
Aber bringt das Ehrenamt nicht jedem Einzelnen viel Gewinn?
Aber ja. Es bringt Anerkennung und soziale Teilhabe, es verlängert vielleicht sogar das Leben und macht glücklich. Meine Kritik zielt denn auch nicht auf den Einzelnen, ich will niemandem verbieten, Kassierer im Schützenverein zu werden. Sie hebt vielmehr darauf ab, dass mit dem bürgerschaftlichen Engagement oftmals gesellschaftliche Verhältnisse vernachlässigt werden, die eigentlich politisch bearbeitet werden müssten.
Der Staat spart Geld. Ist das nicht für alle ein Gewinn?
Langfristig können Abhängigkeiten entstehen, die keinesfalls nachhaltig sind. Das geschieht unbewusst. Ich glaube nicht, dass es den bösen Politiker gibt, der Ehrenamtliche instrumentalisieren will. Dennoch schaut man nach ungenutzten Potenzialen. Die Politik suggeriert, dass sich Probleme lösen lassen, indem man sie dem lokalen Engagement von Freiwilligen anvertraut. Doch das stimmt nicht.
Gibt es andererseits nicht auch Probleme, die der Staat allein niemals lösen kann – die Flüchtlingskrise etwa?
Das ist richtig. Manches kann der Staat nur mit ungeheurem Aufwand erreichen. Aber es ist leichtfertig, Aufgaben wie etwa die materielle Daseinsfürsorge in ein privates System zu verlagern, wie es zum Beispiel die Tafelläden eines sind. Auch die Hilfe für Flüchtlinge ist ja erst mal Aufgabe des Staates.
Baden-Württemberg gefällt sich in der Rolle des Ehrenamts-Champions. Woran liegt diese Vorreiter-Rolle? Hat das etwas Religiöses?
Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass es mit dem relativen Wohlstand der Baden-Württemberger zu tun hat. Es gibt hier genügend Menschen, die Ressourcen für das Ehrenamt frei haben. Vielleicht hängt es aber auch mit einer Art Machermentalität zusammen. Ich erlebe das hier in Furtwangen häufig. Man sagt: Wir warten nicht auf irgendwas, sondern nehmen das selbst in die Hand. Man organisiert einen Bürgerbus oder betreibt ein Schwimmbad. Die Frage ist nur: Wo kippt das Ganze? Denn gleichzeitig steht hier auch die Frage im Raum: Was muss geschehen, damit der ländliche Raum zukunftsfähig bleibt? Er bleibt jedenfalls nicht allein dadurch zukunftsfähig, weil es ein paar engagierte Bürger gibt.
Welche Rolle spielt das Lob der Politik für Ehrenamtliche?
Lob ist der Treibstoff für die Entwicklung in Richtung einer Freiwilligengesellschaft – um diesen Begriff nochmals aufzunehmen. Ich bin so sozialisiert, dass man Gutes tut, aber nicht darüber redet. Im Moment erleben wir das Gegenteil. Das Ehrenamt wird inszeniert, jede kleine Aktion muss in der Zeitung stehen jeder muss mit Namen genannt werden. Da wird eine ganze An- erkennungskultur darum herum gebaut. Und das ist gefährlich, weil damit der Wert des Freiwilligen und der Wert des Engagements gleichermaßen schleichend beschädigt werden.