Am 2. Oktober 2014 wurde in Ditzingen ein fünfjähriges Mädchen von seiner eigenen Mutter verschleppt. Der Vater sucht nun auf eigene Faust nach dem Kind.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Ludwigsburg/Luban - Der Kindersitz ist noch auf der Autorückbank montiert. Thomas Karzelek hat ihn nie ausgebaut, obwohl in dem Sitz lange kein Kind gesessen hat: seit dem 2. Oktober 2014, dem Tag, an dem Lara von ihrer Mutter verschleppt wurde und an dem die Suche des Vaters nach seiner Tochter begann. Thomas Karzelek wird den Sitz noch brauchen, daran hat er keinen Zweifel. Es wird der Tag kommen, an dem seine Suche endet. „Ich werde Lara finden“, sagt er, irgendwo in Polen. Er wird die Fünfjährige kurz in den Arm nehmen, die hintere Autotür öffnen, Lara in den Sitz schnallen und losfahren, raus aus Polen. Weg von den Menschen, die er hasst und die ihn hassen, zurück nach Berlin.

 

Aber so weit ist es noch nicht, und deshalb bricht der 43-jährige Vater jetzt in die andere Richtung auf. Wie oft er in den vergangenen Monaten von Berlin nach Polen gefahren ist, weiß er nicht, ungefähr einmal pro Woche. Aber diesmal ist es anders. Hinter der Grenze wird er auf Menschen treffen, die wütender auf ihn sind als je zuvor. „Mir wurde schon gedroht, dass jemand vorbeikommt, der mir die Beine bricht“, sagt er mit seiner stets seltsam gedämpften Stimme. Aus zwei Gründen ist Karzelek kürzlich von Schwieberdingen nach Berlin umgezogen: weil er von dort schneller nach Polen kommt „und weil Berlin ein guter Ort ist, um sich zu verstecken“.

Montag, 7.30 Uhr, als Treffpunkt hatte Thomas Karzelek eine Bushaltestelle am Messegelände vorgeschlagen. Er kommt pünktlich. Am Steuer sitzt seine Verlobte, die ihn oft nach Polen begleitet. Der Tag ist streng durchgetaktet. Thomas Karzelek will zum Amtsgericht und zur Staatsanwaltschaft in Luban, Niederschlesien. Danach wird er bei Menschen klingeln, die sehr wahrscheinlich wissen, wo Lara ist.

Aus den Eltern wurden Feinde

Wenige Tage zuvor hat das Amtsgericht Ludwigsburg Laras Mutter, Joanna S., zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Mutter und Vater waren mal ein Paar, liebten sich, 2011 trennten sie sich. Lara war zwei Jahre alt, als aus den Eltern Feinde wurden und der Streit ums Sorgerecht begann. Joanna S. ist Polin und Juristin, sie kennt das Recht. Kurz nach der Trennung bricht sie es zum ersten Mal, als sie ihre Tochter gegen den Willen des Vaters von Schwieberdingen nach Stettin verschleppt. Nach zehn Monaten holt Karzelek das Mädchen zurück. „Ich musste handeln, denn die polnischen Behörden haben damals die Rückführung nach Deutschland immer weiter verzögert“, sagt er. Bei einem Besuch im Streichelzoo nimmt er Lara und rennt mit ihr zu einem Auto, in dem abfahrbereit ein Freund am Steuer wartet.

Im Dezember 2013 scheitert ein Entführungsversuch der Mutter, doch am 2. Oktober 2014 ist sie gut vorbereitet: Mit einem Komplizen an ihrer Seite und mit Pfefferspray bewaffnet überfällt sie die neue Lebensgefährtin von Thomas Karzelek, als diese Lara in einen Ditzinger Kindergarten begleitet. Joanna S. und ihr Begleiter reißen das Kind an sich und verschwinden. Seither hat Thomas Karzelek seine Tochter nicht gesehen und nicht gesprochen. Kein Lebenszeichen, nichts.

Weil mit internationalem Haftbefehl nach der Mutter gefahndet wird, droht ihr die Auslieferung, im März stellt sie sich den deutschen Behörden und wird verhaftet. Wo Lara ist, sagt sie nicht. „Ich weiß es nicht“, beteuert sie vor Gericht – wohl wissend, dass ihr niemand glaubt. Laras polnische Großmutter ist auch verschwunden, weshalb die deutschen Ermittler vermuten, dass sie das Kind versteckt.

5000 Zloty Belohnung für Hinweise

Auch Thomas Karzelek vermutet das. Jetzt steht er auf dem Balkon der Staatsanwaltschaft in Lubanń und schmeißt seinen Aktenordner in eine Ecke. Die Beamten haben ihm gerade mitgeteilt, dass sie das Ermittlungsverfahren gegen die Großmutter eingestellt haben – gegen die Frau liege nichts vor. „Ich bin wütend“, ruft er. Immerhin berichtet das benachbarte Amtsgericht, dass sich das polnische Justizministerium nach dem Fall erkundigt habe. Das könnte ein gutes Zeichen sein.

22 000 Menschen leben in Luban, und mindestens einer müsste wissen, wo Lara ist. Der Großvater wohnt im Zentrum, alleine, seit seine Frau untergetaucht ist. Thomas Karzelek kennt das Haus gut, früher hat er darin mit der Familie gesessen, gegessen und geplaudert. Er hat polnische Wurzeln, man verstand sich. Was jetzt passiert, weiß er nicht. Er klingelt. Niemand öffnet. Karzelek wartet, klingelt, wartet, klingelt noch einmal. Er ist hartnäckig, seine Verlobte geht nervös auf und ab. Als der polnische Großvater in Ludwigsburg als Zeuge aussagen musste, stieß er wüste Beschimpfungen aus. Thomas Karzelek und seine Freundin wurden danach von bewaffneten Beamten zum Auto begleitet.

Als auch nach fünf Minuten niemand öffnet, nimmt Thomas Karzelek einen Stapel Plakate aus einer Tüte. Er hat die Zettel mit Fotos von Lara in vielen polnischen Städten aufgehängt. 5000 Zloty Belohnung lobt der Vater aus für Hinweise, die zu Lara führen, rund 1200 Euro. Passanten sprechen ihn an. Eine junge Frau meint, Lara gesehen zu haben, ist sich aber nicht sicher.

Es gibt nichts mehr zu reden

Dann kommt er. Offenbar hat Laras Großvater die Szene durch das Fenster beobachtet und es nicht mehr ausgehalten. Er öffnet die Tür, hinkt zwar, aber rennt direkt auf Thomas Karzelek zu, schreit, fuchtelt mit den Armen. Karzelek ist größer und kräftiger als der ältere Herr, weicht aber trotzdem kurz zurück.

Sie stehen sich direkt gegenüber. Ein deutscher Vater, der seine Tochter sucht. Und ein polnischer Vater, dessen Tochter in einem deutschen Gefängnis sitzt. „Hau ab, du hast keine Tochter mehr“, brüllt der Großvater auf Polnisch über den Platz, der sich mit immer mehr Menschen füllt, die aus dem Supermarkt, der Wechselstube und den Modegeschäften nach draußen kommen. „Wo ist Lara?“, schreit ihm Thomas Karzelek ins Gesicht. „Sie hat sich von dir losgesagt“, ruft der Ältere und reißt ihm die Zettel aus der Hand. „Oh mein Gott“, murmelt eine ältere Polin.

Eine Weile stehen sie alle da – Großvater, Vater, die Verlobte, die Schaulustigen – und niemand weiß, was jetzt zu tun wäre. Es gibt wohl nichts mehr zu tun und nichts zu reden. Der Großvater schleudert Beleidigungen heraus, und jedem ist klar: Er wird nicht sagen, wo Lara ist. Auch jetzt nicht, obwohl feststeht, dass Lara auch ihre Mutter so bald nicht wiedersehen wird. Das war alles, was Thomas Karzelek wissen wollte. Er geht zum Auto, weitersuchen.

Die Hintergründe des Familiendramas

Rund 80 Kilometer sind es von Luban bis nach Legnica. Entlang der Landstraße: Wiesen, Felder und immer wieder verlassen wirkende Gebäude und Höfe. „Es gibt viele Möglichkeiten, ein Kind zu verstecken“, sagt Thomas Karzeleks Verlobte. „Wie lange soll das noch so gehen?“ Die Polen würden sich als Opfer fühlen. „Aber wir sind doch die Opfer, das sind die Täter.“

Opfer, Täter – sind das passende Kategorien, wenn es um ein gemeinsames Kind geht? Vor Gericht hatte der Verteidiger von Joanna S. um Verständnis für die Mutter geworben. „Lara ist ihre Tochter. Ich weiß nicht, wie sich andere in so einer Situation verhalten würden.“ In ihrem Schlusswort sagte Joanna S. unter Tränen, Lara sei „ihr ein und alles“. Die Richterin interessierte all das nicht. Sobald eine der beiden Seiten auf die Hintergründe des Familiendramas zu sprechen kam, blockte sie dies mit aggressivem Unterton ab. Das Verfahren befasse sich ausschließlich mit dem Kindesentzug am 2. Oktober.

Tatsächlich geht es in dieser Tragödie um sehr viel mehr, als in einem Strafprozess verhandelt werden kann. Die manchmal schwierige Beziehung zwischen Polen und Deutschland spielt ebenso eine Rolle wie der lange schwelende Konflikt zwischen Vater und Mutter.

Das Recht ist auf Karzeleks Seite

Nach der Trennung hatte Joanna S. ihrem Ex-Mann vorgeworfen, er habe Lara sexuell missbraucht, was sich als haltlos erwies. Vor der Polizei sagte die Mutter aus, Thomas Karzelek sei alkohol- und drogenabhängig, auch dafür ließen sich keine Anhaltspunkte finden. Eine Psychologin hat, als Lara noch in Deutschland lebte, alle Beteiligten begutachtet. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Thomas Karzelek ein „liebevoller Vater sei“, der sein Kind beschützen möchte. Beide würden „eingespielt und vertraut miteinander wirken“.

Joanna S. kam schlechter weg. Lara habe sich öfter von ihrer Mutter abgewendet und teilweise bei „körperlicher Nähe unwohl gefühlt“. Joanna S. sei zwar warmherzig, lasse aber eine verzerrte Wahrnehmung und starke Ich-Bezogenheit erkennen. „Im Gespräch zeigte Lara eine klare Präferenz für ihren Vater.“ Auch sei dieser kooperativer. Er sehe ein, dass der Kontakt zwischen Tochter und Mutter wichtig sei. Joanna S. habe hingegen stets versucht, Lara vom Vater fernzuhalten.

Mehrfach hat Joanna S. kritisiert, sie werde in Deutschland schlecht behandelt, weil sie Polin sei. Aber Lara ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, deshalb sind deutsche Gerichte für den Fall zuständig. Schon kurz nach der Trennung wurde dem Vater das Aufenthaltsbestimmungsrecht zugesprochen, später das alleinige Sorgerecht. Er hat das Recht auf seiner Seite.

Die letzte Spur führt nach Legnica

Nicht aber die polnischen Behörden. „In Polen herrscht die Überzeugung, dass ein Kind immer zur Mutter gehört“, erzählt er auf der Fahrt nach Legnica. „Deshalb werden uns Steine in den Weg gelegt.“ Bis heute seien keine Häuser durchsucht und keine Telefone abgehört worden. „Polen ist ein nationalistisches Land. Für die Polen geht es hier um eine arme polnische Mutter, die sich gegen Deutsche wehrt“, sagt seine Verlobte.

Thomas Karzelek hat auch etwas Angst vor dem Tag, an dem er Lara findet. Er weiß, dass man ihr viel Schlechtes über ihn erzählt hat. Dass acht Monate eine lange Zeit sind für ein fünf Jahre altes Kind. „Genau das wollte ich nie“, sagt er. „Den Horror vor den Gerichten wollte ich uns allen ersparen. Ich wäre einverstanden gewesen, dass Lara nach Polen umzieht, wenn ich sie nur regelmäßig hätte sehen dürfen. Aber es gab nie eine Chance auf eine Einigung.“

Legnica am frühen Abend, ein Plattenbau am Stadtrand. In einer der Wohnungen hatten Detektive Lara im November aufgespürt, sie wohnte dort mit ihrer Mutter bei einer Tante. Doch die sofort alarmierte Polizei nahm das Kind nicht mit, und kurze Zeit später war Lara wieder verschwunden.

Ein Funken Hoffnung

Jetzt kann sich Karzelek keine Detektive mehr leisten, das Geld wird knapp, auch wegen der Anwälte. Karzelek ist Informatiker, aber er arbeitet jetzt weniger, um mehr Zeit für die Suche zu haben. Er klingelt, die Tante öffnet sofort und bittet ihn hinein. Anfangs ist bis ins Treppenhaus zu hören, wie sie streiten, dann wird es ruhiger, nach einer halben Stunde tritt Karzelek aus der Tür. „Sie sagt, sie wisse nichts.“

Aber sie macht ein Angebot. Die Tante will mit Laras Großvater sprechen und ihn fragen, ob Thomas Karzelek nicht wenigstens ein Mal mit seiner Tochter telefonieren darf, immerhin etwas.

Es war ein langer Tag, mal wieder. Noch drei Stunden über die Autobahn, dann sind Thomas Karzelek und seine Verlobte zu Hause – ohne Lara. Wie geht es ihm? „Ich bin müde.“ In drei Tagen wird er wieder nach Polen fahren.