Er ist ans andere Ende der Welt gereist, um den Himmel zu sehen. Nirgendwo  kann der Wertheimer Astronom Thorsten Ratzka den Sternen näher sein als im Paranal-Observatorium mitten in der chilenischen Atacama.

Wertheim - Thorsten Ratzka lehnt am Geländer auf dem Gipfel. Rund 2600 Meter über dem Meeresspiegel. Hinter ihm stehen vier der größten Teleskope der Welt. Die Arbeitsplätze sind eingerichtet, die Geräte kalibriert, die Zielkoordinaten überprüft. Jetzt muss nur noch die Nacht kommen. Dunkelblau ist der Himmel über der Atacama. Die tief stehende Sonne legt orangefarbenes Licht über die Kuppeln der Teleskope. Der 39-jährige Wertheimer schießt ein Foto nach dem anderen mit seiner Kompaktkamera. Als Gastastronom in der chilenischen Wüste, wo vor wenigen Tagen auf einem anderen Berg das Superteleskop Alma in Betrieb ging, ist man immer auch ein staunender Tourist.

 

Viele der Wissenschaftler hier kennt Thorsten Ratzka vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Astronomie, wo er promoviert hat, oder er hat sie bei anderen Projekten kennengelernt. Die Welt ist klein bei den Sternenguckern. Mit dem Astronomen Andre Müller arbeitet Ratzka schon lange zusammen. Müller forscht für die Europäische Südsternwarte (ESO), die das Observatorium auf dem Paranal betreibt.

„Die Wolken hängen über dem Pazifik, wo sie hingehören“, sagt Andre Müller. „Der Wind ist auch schwächer geworden“, sagt Thorsten Ratzka. Am Nachmittag haben sich die Forscher noch Sorgen gemacht, doch dann ist endlich die typische Wetterlage eingekehrt, die eine sternenklare Nacht auf dem Berg verspricht.

Als die Sonne im Pazifik versinkt, verstummen alle Gespräche. Ein paar Minuten glüht sie noch unter der Wolkendecke, dann gibt sie den Himmel frei für eine Nacht, wie sie nur die Atacama bietet. Kein weltliches Licht mischt sich in die Dunkelheit. Nur der Vollmond scheint so hell, dass die Astronomen Zeitung lesen könnten. Das Sternenmeer streckt sich bis zum Horizont, auf den man vom Berg aus fast schon herabblickt. Ratzka schaut hier nicht nur in den Himmel. Er ist gleichsam mittendrin.

Der Traum jedes Astronomen

Mehrere europäische Staaten, darunter auch Deutschland, finanzieren die Südsternwarte mit 135 Millionen Euro im Jahr. Astronomen aus der ganzen Welt träumen davon, von hier aus das Universum beobachten zu dürfen. Mehr als 2000 Anträge gehen jedes Jahr ein. Vier- bis sechsmal so viel, wie die ESO annehmen kann. Ratzka hat ein halbes Jahr auf seine Chance gewartet. Vier halbe Nächte gibt ihm die ESO. Zeit, die es jetzt intensiv zu nutzen gilt.

Die Astronomen steigen die Treppen hinab zum Leitstand, von dem aus die Teleskope gesteuert werden. Hier geht es um die großen Rätsel. Seit er denken kann, hat Thorsten Ratzka die Neugier umgetrieben. „Ich wollte wissen, nach welchen Regeln das Universum funktioniert.“

Sonnen explodieren. Sternenstaub bildet mit Wasserstoff und Helium Wolken im interstellaren Raum. Der Kern der Wolke verdichtet sich, zieht mit seiner Schwerkraft immer mehr Teilchen an und erhitzt sich. Ist die Temperatur hoch genug, entsteht ein neuer Stern. Die junge Sonne dreht sich. Senkrecht zur Achse bildet sich eine rotierende Scheibe aus dem restlichen Gas und Staub. „Wir gehen davon aus, dass darin Planeten entstehen“, sagt Ratzka. „Noch ist das aber nur eine Theorie, die bewiesen werden muss.“ In dieser Nacht will er drei solcher Staubscheiben vermessen und dem Geheimnis ein Stück näherkommen.

An sein erstes Teleskop aus dem Kaufhaus erinnert sich Thorsten Ratzka noch gut. Er war damals 15 Jahre und das Fernrohr ein Geschenk seiner Mutter. Auf dem Balkon ihrer Wohnung am nördlichsten Ende Baden-Württembergs hat er es ausprobiert. „Es war so wackelig, dass Jupiter vor meinem Auge auf und ab gehüpft ist.“ Seine ersten richtigen Beobachtungen hat er an der Wertheimer Volkssternwarte gemacht. In langen klaren Winternächten, deren Sternbilder ihn tausendfach für das Frieren in der Kälte entschädigt haben.

Durch die Teleskope, die er in dieser Nacht benutzt, kann er nicht durchschauen. Sämtliche Daten werden zu einem Rechner weitergeleitet. Die Hightechfernrohre fangen für Ratzka auch keine optischen, sondern Infrarotsignale aus den Weiten des Alls auf. „Man darf ja leider kaum in die Nähe der Geräte, das ist viel zu gefährlich“, frotzelt Thorsten Ratzka, der, wenn er nicht gerade in Chile den Himmel ausforscht, an der Münchner Universitätssternwarte arbeitet.

Im Dom des Riesenteleskops

Dafür darf der Gast im Dom des Riesenteleskops Nummer zwei beim „Opening“ dabei sein. Zuschauen, wie sich der Schutzbau öffnet und einen Spalt Himmel frei gibt. Nur mit Helm ist es erlaubt, das Heiligtum zu betreten. Nach Sonnenuntergang darf niemand mehr unter der Kuppel sein – auch weil die Körperwärme die empfindlichen Instrumente stören würde. Die Astronomen arbeiten die Nacht über am Computer im geheizten Kontrollraum. Wie Inseln stehen 20 Monitore im Raum. Schilder zeigen an, womit gearbeitet wird: „UT 1“ bis „UT 4“ stehen für die vier „Unit Telescopes“ des „Very Large Telescopes“. Mit Spiegeln von acht Metern im Durchmesser gehören sie zu den Giganten dieser Welt.

200 Menschen arbeiten auf dem Berg. Der nächste Ort ist 200 Kilometer entfernt. Das Observatorium ist wie ein Dorf. Ein Tanklaster bringt täglich 60 000 Liter Wasser. Generatoren produzieren Strom. Handyempfang gibt es nicht, jeder trägt ein Funkgerät mit sich. Die Schlafräume sind in der „Residencia“, die schon eine Kulisse für den James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ war. Aus dem Kasino, das rund um die Uhr geöffnet hat, holt Ratzka frühmorgens Brot und Käse, oder er schwimmt noch eine Runde im Pool. Die Forscher sind meist eine Woche oben. Spätestens nach 14 Tagen schickt die ESO ihre Astronomen für eine Weile zurück nach Santiago, wo jeder von ihnen eine Wohnung und ein Büro hat. Auf Dauer tut der Berg Körper und Seele nicht gut.

Am Interferometer, der die Überlagerung von Lichtwellen misst, werden für Thorsten Ratzka mehrere Teleskope zusammengeschaltet, um eine möglichst hohe Auflösung zu erhalten. Zwei der kleineren Hilfsteleskope reichen aus, um 500 Lichtjahre entfernte Staubscheiben im Detail zu beobachten. Ein Blick in die Vergangenheit. „In 500 Jahren passiert aber nicht viel“, meint Thorsten Ratzka.

Gleich zu Beginn der Nachtschicht im Kontrollraum ist sein Lächeln einem konzentrierten Blick gewichen. Jetzt wird’s ernst. Die Teleskope sind auf das erste Ziel gerichtet. Eine Staubscheibe im Sternbild Stier. Zwei Techniker, ein zweiter ESO-Astronom, Müller und Ratzka starren auf einen Bildschirm mit Diagrammen. Für Laien ein einziges Zahlenchaos. Ein neues Fenster ploppt auf. Alle fünf stöhnen, Ratzka fasst sich an die Stirn. „Wir müssen die infraroten Wellenfronten übereinander lagern“, erklärt er. Dazu wird das eingefangene Licht durch ein unterirdisches System aus Tunneln und Spiegeln gejagt. Es klappt aber nicht. Keiner weiß, warum.

Wettlauf gegen die Zeit

Ratzka rollt genervt mit dem Stuhl zurück zu seinem Laptop, ein Kollege springt zur Seite. Der Gast hat nur vier Nächte, egal was passiert. Ist es bewölkt oder gibt es technische Probleme, so wie jetzt, heißt es: Pech gehabt, einen neuen Antrag stellen, in ein oder zwei Jahren noch mal kommen. Da kann man schon nervös werden. Ratzka blättert in seinem Block, ruft Dateien am Computer auf, checkt alles ein viertes Mal. Er hat Angst, dass der Fehler in der Vorbereitung liegt. Müller versucht es weiter, bis bereits ein Viertel der Nacht vergangen ist. Er scheint als der Einzige, der die Ruhe behält. „Auf die ein oder andere Art bekommen wir es hin“, sagt er. Das nächste Fenster, das sich auf dem Monitor öffnet, löst wieder ein gemeinsames Seufzen aus. Aus Erleichterung. Es funktioniert. Keiner weiß, warum.

Die Atmosphäre am Interferometer bleibt dennoch angespannt. Die Wissenschaftler versuchen, die verlorene Zeit aufzuholen. Müller klickt in den Zahlen, Balken und Linien herum, hackt etwas in seine Tastatur, gibt Anweisungen an die Technikerin. Ratzka steht mit verschränkten Armen daneben. Um halb zwei übernimmt schließlich das Team um den nächsten Gastastronomen das Interferometer.Erst beim verspäteten Mitternachtsimbiss in der Küche unter dem Kontrollraum fällt die Spannung allmählich ab. „Deswegen arbeite ich so gerne hier“, sagt Müller, als er die vorbestellte Lasagne aus dem Kühlschrank holt: „Kostenloses Essen.“ Er kichert selbst am meisten über seinen Scherz, während Thorsten Ratzka noch immer leicht apathisch am Tisch sitzt. Erst auf dem Weg nach unten in die „Residencia“ wird auch er wieder gelöster. Es ist drei Uhr am Morgen, als Ratzka die Tür zu seinem Zimmer aufschließt.

Am nächsten Nachmittag und in der nächsten Nacht macht er weiter mit seiner Arbeit, die nie ein Ende finden wird. Seine Lebenszeit wird nicht ausreichen, die Antworten auf all seine Fragen zu finden. „Dafür gibt es immer wieder die schönen Erlebnisse“, sagt Thorsten Ratzka. „Wenn ich wieder ein kleines Stück gefunden habe, das ins große Bild passt.“