Ein Zeitzeuge erinnert sich Eine Kindheit bei Kriegsende
Der Sommer meines Lebens: Und plötzlich war alles still – was Werner Birkenmaier 1945 als Elfjähriger erlebte, waren mehr als ein paar bedeutende Monate.
Der Sommer meines Lebens: Und plötzlich war alles still – was Werner Birkenmaier 1945 als Elfjähriger erlebte, waren mehr als ein paar bedeutende Monate.
Beim Stichwort Sommer denkt man gemeinhin an Sonne, Wärme, Badespaß. Befragt man dagegen Werner Birkenmaier zum Sommer seines Lebens, fallen ihm keine kreischenden Kinder am See ein, kein Eis am Stiel oder Lagerfeuer mit Gitarre. Im Gegenteil, was diesen Sommer so besonders machte, war die plötzliche Ruhe. Eine Ruhe, die der elfjährige Junge noch nie erlebt hatte. „Es wurde still“, erzählt er, „es war eine Stille, die ich so nicht kannte. Als wäre die Stille neu geboren worden.“
Inzwischen ist Werner Birkenmaier 90 Jahre alt – und erinnert sich doch noch sehr genau daran, wie er diese plötzliche Ruhe damals erlebte. Denn als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg endete, war von heute auf morgen alles anders für den Jungen, der genau wusste, wie Düsenjäger klingen, wenn sie über das Dorf hinwegfegen und dabei „so ein komischer Schall zwischen den Bäumen“ entsteht. Er kannte auch dieses typische Wummern der Artillerieauseinandersetzungen, das bei Westwind vom Rhein zu ihnen hinauf auf die Schwäbische Alb geweht wurde. Auch Fliegeralarm, der über Stunden jaulte, gehörte zum Alltag. Aber wie ein Leben ohne Motorgeräusche klingt, ohne Flugzeuge und Schießen, das wusste er nicht – „merkwürdig“ sei das gewesen.
Der Zweite Weltkrieg, so wollen einen Filme glauben machen, betraf vor allem die Menschen in Berlin und einigen anderen Großstädten. Dabei war der elfjährige Werner, der mit seiner Mutter und zwei großen Brüdern auf dem Dorf lebte, vermutlich besser über die Kriegsereignisse informiert als mancher Städter. Er hörte nicht nur „die Propaganda, die durch den Lautsprecher tönte“, sondern entdeckte durch Zufall einen Schweizer Sender. Mit Bleistift markierte er auf dem Gerät die Frequenz und hörte fortan heimlich die ausländischen Nachrichten. Er kann es noch heute mit Schweizer Akzent nachmachen: „Hier ist die Schweizer Depeschen-Agentur . . . im Osten haben die Deutschen wieder schwere Verluste . . .“
Werner Birkenmaier muss ein aufgewecktes Kind gewesen sein, las schon mit sechs Jahren Ernst Jünger und alles, was er in den Regalen der Eltern und großen Brüder finden konnte. Sein Interesse an Texten hat er später zum Beruf gemacht, studierte Jura und wurde Journalist. Birkenmaiers Berichterstattung über die RAF-Prozesse in Stammheim machten ihn zu einer wichtigen Stimme im deutschen Journalismus. Viele Jahre hat er zudem das Politikressort der Stuttgarter Zeitung geleitet.
Wenn man 90 Jahre alt ist, hat man ein sehr dickes Bündel an Erlebnissen im Gepäck. Trotzdem erinnert sich Werner Birkenmaier noch sehr genau an seine Kindheit im Krieg, den er bereits mit journalistischer Neugierde verfolgte. Das Militär war hier auf der Schwäbischen Alb allgegenwärtig, denn direkt neben der Wohnung der Familie lag ein Truppenübungsplatz, der der Vorbereitung des Krieges diente. „Wir hatten immer Militär vor Ort“, erzählt Werner Birkenmaier – und in ihrer Wohnung wurden regelmäßig Offiziere einquartiert.
Seit dem Sommer 1944 gingen Werner und die anderen Kinder nicht mehr zur Schule, wegen der ständigen Tieffliegerangriffe hätten sie ohnehin die meiste Zeit im Luftschutzkeller verbringen müssen. So schaute er häufig zu, wie auf dem Truppenübungsplatz „die Rekruten geschliffen wurden“, wie er es nennt. „Wenn die nichts kapierten, sagte der Unteroffizier: ,Das kann doch jeder Junge‘“. Also wurde der kleine Werner herbeigerufen, um vorzumachen, wie man ein Maschinengewehr zusammensetzt. „Waffenbeherrschung“, erzählt er, „war für mich selbstverständlich.“
Aber der Junge beobachtete auch, wie bei klarem Wetter die „Bomberströme am Himmel vorbeizogen“, hunderte amerikanische Bomber seien es gewesen. Er verfolgte den Verlauf des Krieges sehr genau und hörte in den Schweizer Nachrichten „vom Durchbruch der russischen Front im Mittelabschnitt, das war ein viel größeres Drama als Stalingrad.“ Da ahnte er bereits, was andere noch nicht zu hoffen wagten: „Das Ende dieses überflüssigen Krieges zeichnete sich ganz deutlich ab.“ Das bestätigte auch ein deutscher Oberleutnant, der abgeschossen worden war und mit seinem Fallschirm mitten auf der Dorfstraße landete. Mit zittrigen Händen holte er seine Zigaretten raus, Werner gab ihm Feuer und erfuhr: „Wir haben mit unseren veralteten Kisten da oben überhaupt keine Chance.“
Es war denn auch der Elfjährige, der im April 1945 der Mutter erklärte, dass die Amerikaner in ein paar Tagen kommen würden. Recht hatte er. Zunächst fuhr ein Jeep vor mit einem deutschen Unteroffizier – „als Kugelfang.“ Es war ein kalter Tag und die amerikanischen Soldaten, die folgten, schnappten sich in der Wohnung der Birkenmaiers die Frotteehandtücher und legten sie sich um den Hals, „sehr zum Ärger meiner Mutter“. Sie aßen sich in der Küche satt an den Eiern und legten sich schließlich in die Betten „mit Schuhen, klar, es waren Frontsoldaten“. Der Junge aber hatte nur eines im Kopf: Er wollte seine Schreibmaschine retten. Ausgerechnet da, als er sie unterm Arm wegtragen wollte, traf er einen amerikanischen Soldaten, der in ausgezeichnetem Deutsch bat, sie sich kurz ausleihen zu dürfen. Am nächsten Tag brachte er sie tatsächlich zurück.
Als der Ausnahmesommer im Leben von Werner Birkenmaier beginnt, sind die Amerikaner bereits weiter gezogen. Auf den Straßen stehen die Fahrzeuge, die die deutsche Armee zurückgelassen hat. Die Kinder schleppen Waffen und Munition in den Wald und ballern nach Herzenslust herum. Als am 8. Mai das Ende des Krieges offiziell ist und plötzliche Stille im Dorf einkehrt, haben aber auch sie immer weniger Lust,zu ballern. „Später haben wir die Waffen versteckt samt Munition – sie sind irgendwo vermodert.“
Stattdessen entdeckt Werner Birkenmaier, was er vorher nie im Blick hatte: die Natur. Er bemerkt, dass es Käfer gibt, „ich glaube, es war sogar ein Maikäferjahr.“ Wenn er, der mitten auf dem Land groß geworden ist, all die Jahre sein Fernglas, das er aus einem abgestürzten Bomber entwendet hatte, mitnahm, so nicht, um Tiere zu studieren, sondern um das Kriegsgeschehen am Himmel zu verfolgen. Nun aber war der Himmel voller Schwalben. „Die Kuhställe der Bauern hatten eine Öffnung, damit sie reinzischen und sich den Bauch voll schlagen konnten“, erzählt er.
So kam in diesem Sommer 1945 von heute auf morgen „Entspannung ins Leben“. Werner Birkenmaier weiß noch genau, wie sich das anfühlte. „Es war die absolute Freiheit, die wir ausgekostet haben. Manche nannten es auch Anarchie.“ Denn nicht nur der Krieg war beendet, auch der Alltag stand Kopf. „Es funktionierte nichts mehr. Die Nazi-Verwaltung war zusammengebrochen und niemand schrieb den Bauern mehr vor, was sie abgeben müssen.“
Die Kinder nutzten diese neue Freiheit voll aus, kamen bestenfalls noch zum Essen nach Hause. Lieber zogen sie ein paar Karotten aus dem Acker, wenn sie der Hunger überkam, oder aßen Kekse und „komische Schokolade“, die sie in den zurückgelassenen Militärvorräten fanden. Einmal schossen Werner und seine Freunde eine kleine Hütte auf dem Feld zusammen. Der Bauer, dem sie gehörte, beschwerte sich. „Aber er konnte nicht zur Polizei gehen, weil es keine Polizei mehr gab.“
Die Kinder wussten genau: „Abgesehen von der wunderbaren Stille wird es diesen Zustand nie mehr geben, dass Menschen ohne jede Kontrolle leben.“ Die Erwachsenen gingen ihren Geschäften nach, so gut es möglich war, aber es waren ohnehin fast nur noch Frauen im Ort. „Es gab keine männliche Autorität, wenn, waren es ältere Männer“, erzählt Birkenmaier. „Das haben wir schon sehr genossen.“
Nach dem Sommer endete dann die Freiheit. Werner Birkenmaier wechselte nach Münsingen auf die Oberschule. „Die Städter kamen peu à peu in die Dörfer, um zu handeln und tauschen und boten teure Teppiche gegen Lebensmittel.“ Auch auf dem Land wurde die Versorgungslage schlechter. Ein Gutes hatte das Ende dieses Ausnahmesommers aber doch: Nachdem man über Monate keine Bücher hatte kaufen können, konnte sich die Leseratte Werner nun endlich wieder mit neuer Literatur eindecken.