Unser WM-Reporter hat nach dem Ausscheiden der DFB-Elf in Katar Gelegenheit, Begegnungen ohne deutsche Beteiligung zu besuchen. Und erlebt beim Spiel Argentiniens gegen Australien eine Art weiß-himmelblaues Wunder.

Sport: Marco Seliger (sem)

Das WM-Aus für die DFB-Elf hat als Reporter, der für besagte DFB-Elf zuständig ist, gute Seiten. Man weitet den Blick auf andere Spiele – und klickt auf der Internetseite, wo sich Medienvertreter für die Spiele akkreditieren können, Partien ohne deutsche Beteiligung an. Das Achtelfinale zwischen Argentinien und Australien am Samstagabend war so eines.

 

Zugegeben, das klingt bislang alles sehr nüchtern. Doch damit soll es schnell vorbei sein, denn wir gehen jetzt unvermittelt rein – ins Feuerwerk der Emotionen!

Ekstase bei Gomez’ Gang zur Bank

3000 Zeichen gibt es für diese Kolumne, und wir wollen kein einziges mehr verlieren. Fangen wir also beim argentinischen Nationalspieler Alejandro Gomez, der schon in der 50. Minute einen Triumphmarsch bekam, an. Der gute Mann hatte das Glück, ausgewechselt zu werden und auf die gegenüberliegende Seite in Richtung Bank gehen zu dürfen. Die rund 35 000 Argentinier im 45 000 Menschen fassenden Stadion am Stadtrand von Doha drehten bei seiner Ehrenrunde durch, als sei Gomez der Leibhaftige. Also Messi.

Dabei hatte Gomez nicht überragend gespielt. Überragend war nur sein Weg zur Bank. Die Menschen sprangen auf und brüllten fast so ekstatisch wie vorher beim Torjubel nach Lionel Messis 1:0 in Hälfte eins – als es auch auf der Medientribüne laut wurde.

Das Stadion hebt fast ab

So wären die sich überschlagenden Stimmen der argentinischen TV-Reporter sicher auch ohne Übertragungskabel bis nach Buenos Aires gedrungen. Als Messi zum 1:0 traf, tanzten aber nicht nur die Reporter aus den Reihen. Man hätte glauben können, das Stadion hebe gleich ab in höhere Galaxien. Zum Mars. Oder direkt nach Argentinien.

Dabei haben wir die in Weiß und Himmelblau gekleideten Massen auch schon 2018 in Russland heißblütig erlebt. Beim WM-Vorrundenspiel gegen Island in Moskau tanzte und sang Diego Maradona, schwer gezeichnet und gestützt von drei Helfern, auf der Haupttribüne mit. Von der Kurve hinterm Tor aus war das Idol zu sehen, weshalb knapp 10 000 Argentinier nicht das Spiel beobachteten, sondern Maradona guckten – und ihm den Takt vorgaben. Die zweite Hälfte sahen sie dann wieder. Weil Maradona zur Pause völlig erschöpft abgeführt werden musste.

Heute, in der Wüste, wirkt alles noch emotionaler. Und der im November 2020 verstorbene Maradona ist weiter dabei. Sein Konterfei hing am Samstag auf zahllosen Plakaten, verteilt aufs ganze Stadion herum. Und in vielen Liedern, da hörte man seinen Namen. Intoniert aus 35 000 Kehlen.

In der Wüste schrumpft sogar Maradona

Wir wähnten uns also ein paar Momente lang irgendwo mitten in Buenos Aires. Dann aber gingen wir raus aus dem Stadion – und damit raus in die Wüste. Keine fünf Minuten dauerte es, bis wir im Auto heruntergefahren waren. Um halb eins in der Nacht erreichten wir die autofreie fünfspurige Autobahn. Um uns herum: dunkle, sandige Ödnis. Nach einer Viertelstunde unseres Heimwegs grüßte der Emir von einem Plakat. Am Stadtrand von Al-Khor grinste uns dann Gianni Infantino von einer Werbetafel entgegen. Sein Gesicht war zehnmal größer als das von Maradona auf den Plakaten im Stadion.

Selbst einer der Größten der Geschichte also schrumpft in der Wüste. Infantino ist hier größer als eines der Idole schlechthin. Willkommen beim Irrsinn dieser WM.