Vanessa Weil aus Heidelberg ist 39 Jahre alt und wird wohl bald sterben. Seit ihrer Krebsdiagnose ist alles anders – aber nicht alles schlecht.

Heidelberg - Am 22. Juli 2015, 13.35 Uhr, klingelt ihr Telefon. Vanessa Weil schaut erst auf die Uhr im Flur, dann zur Nummer auf dem Display. Es ist die Klinik, bestimmt mit dem pathologischen Ergebnis. „Frau Weil, setzen Sie sich besser hin“, sagt der Arzt. Ein Satz, so unwirklich wie aus einem Film. Da weiß sie Bescheid. Der Tumor, den man ihr vor einigen Tagen aus dem Körper schnitt und eigentlich für unbedenklich hielt, ist bösartig. „Dottersackkrebs“, sagt der Mediziner. „Ist das scheiße“, denkt sie. Noch am selben Abend besucht sie eine Freundin, gemeinsam köpfen sie eine Flasche Sekt. „Irgendwas musste man ja machen“, sagt sie heute.

 

Heute, das ist vier Operationen und etliche Chemotherapie-Zyklen später. Heute, das ist für Vanessa, 39 Jahre alt, nicht mehr selbstverständlich. Denn seit einem Jahr weiß sie, dass sie an ihrem Mitbewohner stirbt. So nennt sie den Keimzellenkrebs, der inzwischen vom Bereich der Nebenniere Metastasen in ihr Bauchfell streute. Alle Behandlungen blieben erfolglos, der Krebs war am Ende immer einen Tick schneller. Inzwischen gilt sie als austherapiert. Mit einer neuartigen Autoimmuntherapie und einem besonderen Chemotherapieverfahren gelingt es den Ärzten derzeit, das Tumorwachstum etwas einzudämmen. Doch sie schätzen ihre Chance, die Krankheit zu überleben, auf unter ein Prozent. Die Zeit, die ihr noch bleibt, ist ungewiss. Doch die Geschichte, die sie erzählt, handelt nicht vom Leiden, sondern vom Leben.

Nessa, so stellt sie sich vor, hat einen festen Händedruck. Sie trägt eine gemusterte Stoffhose, ein leichtes T-Shirt, dezentes Make-up. Ihre hellbraunen, kurzen Haare sind mit Gel zurechtgestylt. Wenn sie lächelt, graben sich feine Falten um ihre Augen. Ihr Gang ist ein wenig staksig, ihre Hüfte, so wirkt es, will nicht ganz das Tempo ihrer Beine mitgehen. Sie führt an den Esstisch in ihrer Zweizimmerwohnung. Vor wenigen Monaten zog sie nach Schriesheim bei Heidelberg, dritte Etage in einem neuen Häuserblock. Damit die Nachbarin spontan vorbeischauen kann, hat diese einen Zweitschlüssel zur Wohnung.

Sie verlässt ihre Wohnung, ihre Arbeitsstelle und ihren Mann

Als Vanessa Weil erfuhr, dass sie nicht mehr lange leben wird, verließ sie ihre Wohnung in Ladenburg, verließ ihren Mann und verließ auch ihren Arbeitsplatz bei MLP. Um ihre letzten Monate so zu genießen, wie sie es will, erklärt sie. Sie brauchte Luft. In ihrer neuen Wohnung fand sie für sich und ihre Katze Emma genug Raum zum Atmen. Hier, wo sich Nachbarn von bunten Balkonen über den Innenhof zuwinken, will sie sterben. In keiner Klinik, in keinem Hospiz.

Sie hat die Rollläden heruntergelassenen, aber trotzdem wirkt die Wohnung hell und freundlich. „Ich hatte schon überlegt, ob es sich überhaupt noch lohnt, sie einzurichten“, flachst sie. Ein wenig hat man das Gefühl, das macht sie gerne: sticheln, konfrontieren, schauen, wie viel schonungslose Ehrlichkeit ihr Gegenüber verträgt. Sie zeigt auf den Kiefernschrank an der Wand. „Der ist schon vergeben.“ Auf die geknüpfte Kuscheldecke auf dem Sofa: „Bekommt eine Freundin von mir.“

Seit der Diagnose ist Vanessa Weils Leben ein anderes. Sie sagt, eigentlich gebe es das alte nicht mehr. Zunächst veränderte sich ihr Äußeres. Sie verlor ihre Haare. Auch die Wimpern und Augenbrauen. Letztere ließ sie sich inzwischen tätowieren. Sie verlor ihre Gebärmutter und ihre Eileiter – als sie eigentlich Kinder plante. Sie legte 15 Kilo zu. Sie verlor manche Freunde und Kollegen. Und irgendwann auch die Hoffnung, den Krebs zu besiegen.

Heute schläft sie auf einem elektrisch verstellbaren Lattenrost, um es morgens leichter aus dem Bett zu schaffen. Wenn sie sich überanstrengt, wie vor drei Wochen, spuckt sie Galle. Sie schluckt Entwässerungstabletten, Antidepressiva, um besser einschlafen zu können, nimmt Ibuprofen, damit die Wunden schmerzfreier verheilen, schluckt Medikamente gegen das taube Gefühl in den Beinen. Natürlich fließen auch mal Tränen. Das ist die eine Seite.

Der Krebs ist Fluch und Segen

Vanessa Weil sagt, der Krebs sei Fluch und Segen zugleich. Es hätte auch sie befreit, als irgendwann feststand, dass bei ihr keine herkömmlichen Therapien mehr wirken. Sie gibt sich lieber geschlagen, als vergeblich zu kämpfen.

Ihr Weg, das sei jetzt nicht mehr der Kampf gegen den Krebs, sondern das Leben mit ihm. Und den gehe sie mit Stolz und Würde. Die Krankheit habe sie auch mit neuen Freunden beschenkt und mit alten enger zusammengeschweißt. Ihr Augenblicke gegeben, die früher ungesehen an ihr vorbeigezogen wären. Erst jetzt sei es ihr möglich innezuhalten. Wenn sie mit ihrer Katze Emma kuschelt. Wenn sie mit einer Freundin einen Kaffee trinkt. Nun sei das Leben wie ein nie enden wollender Urlaub. „Wahrhaftig glücklich, das bin ich erst jetzt“, sagt sie. Ihre Stimme, sonst laut und neckisch gefärbt, wird sanft. Die Lachfalten um ihre Augen glätten sich.

Seit mehr als einem Jahr lässt sie andere Menschen an ihrem Weg teilhaben. Auf Facebook bloggt sie regelmäßig aus ihrem Leben. 7000 Begleiter, so nennt sie ihre Follower, haben sie abonniert. Ein Kampftagebuch sei die Seite nicht. Sie möchte Mut machen. Zeigen, dass es auch ein Leben mit dem Krebs gibt. Und dass man noch immer etwas leisten kann. „Das allgemeine Bild eines Krebskranken sieht doch so aus: abgemagert und haarlos.“

„Für Krankheit gibt es keinen Platz in der Gesellschaft“

Das wollte sie ändern. Für einen Kalender ließ sie sich von 13 Fotografen in Szene setzen. Die Bilder zeigen sie schrill gekleidet, kahlköpfig, nachdenklich, barbusig, und mal sexy. Mal zeigt sie ihren vernarbten Bauch, mal die herausgestreckte Zunge. Manche Bilder sind provokant, andere versöhnlich. Hauptsache, der Mensch stehe im Mittelpunkt – und nicht der Krebs, sagt Vanessa Weil. Mit dem Erlös möchte sie ein Lotsenprogramm am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg unterstützen. „Ich möchte etwas schaffen, das über meinen Tod hinaus Bestand hat.“ Von ihren Zimmernachbarn in der Klinik sind die meisten inzwischen gestorben. Dass sie lebt, sei ein Geschenk. „Ich mache das für jeden, der es nicht geschafft hat“, sagt sie und macht eine Tränenpause.

Manche finden ihren Kalender zu offensiv. Vanessa Weil sagt, in Deutschland will man jung und schön sein. Für Krankheit gebe es in dieser Gesellschaft wenig Platz. „Die Leute wollen das nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen.“ Vielleicht aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit. „Ich und andere Kranke erinnern sie daran, deswegen wenden sich manche von uns ab.“

Sie habe keine Angst vor dem Tod. Wenn schon Angst, dann vor dem Sterben. Sie hofft auf die Palliativmedizin. Darauf, schmerzfrei von der Welt gehen zu dürfen. Und auf die Stärke ihre Familie und ihrer Freunde. „Ich fordere von ihnen zu kämpfen, dass ich zu Hause sterben kann.“

Für ihre Eltern sei es besonders hart gewesen. Es fiel ihnen schwer zu akzeptieren, dass sich die Tochter auf den Tod vorbereitet. „Sie sagten immer: Alles wird gut.“ Als Nessa sich von diesem Glauben verabschiedete, wollte sie diesen Satz, so getränkt mit Zuversicht, nicht mehr hören. „Ihr müsst euch mit dem Gedanken anfreunden, dass ich sterbe“, sagte sie. Und die Familie flehte: „Du musst uns doch die Hoffnung lassen!“ Nessa schüttelte den Kopf. „Ich hab’ keine Böcke mehr drauf“, antwortete sie.

Sie hat ihren Frieden gemacht

Nessa sagt, sie habe ihren Frieden gemacht. Eine verbitterte Kranke wollte sie nie werden. Und sie habe „gerade eh gar keine Zeit zu sterben“. Sie organisiert jetzt eine Benefizgala. Da sollen dann alle Fotografien versteigert werden, die im Rahmen des Kalenderprojekts geschossen wurden. Sie ist noch auf der Suche nach einem schönen Kleid für die Feier. Das will sie auch im Januar tragen, wenn sie 40 Jahre alt wird.

Ihre Beerdigung hat sie schon vor einem Jahr geplant. Sämtliche Unterlagen liegen gesammelt in einem Karton auf dem Kiefernschrank. Einen Brief, mit eigenen letzten Worten möchte sie erst schreiben, wenn es Zeit dafür ist. Eine Freundin soll ihn auf der Trauerfeier vorlesen. Anschließend sollen Heliumballons, in Weiß und Türkis, in den Himmel steigen. Nessa möchte ihre Gäste, die bitte in bunten Kleidern kommen, selbst durch die Feier führen. Mit Liedern, die sie bereits eingesungen hat. Ihr liebstes ist von Sarah Connor:

„Wenn der Tag gekommen ist und ich mit dem Wasser fließe, hoffe ich, dass ihr mich nicht vergesst. Ich will keine Trauerreden. Ich will keine Tränen sehen. Ich will, dass ihr feiert, ich will dass ihr tanzt, mit ’nem Lächeln im Blick und ’nem Drink in der Hand. Einem Heißluftballon, auf dem rießengroß steht: Das Leben ist schön. Auch wenn es vergeht. Und wenn ihr schon weint, dann bitte vor Glück.“