„Tschick“, vor zehn Jahren erschienen, war ein Roman, in dem der Autor Wolfgang Herrndorf meisterhaft thematisierte, was Jugend ist, sein kann, sein soll. Da war er 45 Jahre alt und hatte einen Hirntumor. Drei Jahre später ist Herrndorf tot. „Tschick“ überlebt ihn.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Über die Jahre hinweg kommen dermaßen viele Bücher auf den Markt, dass von den meisten nicht mal Schall bleiben kann. Und dann gibt es welche, die schlagen ein wie Meteoriten. Es dauert, bis die Leute gemerkt haben, was passiert ist, doch am Ende sieht man die Einschläge noch lange, lange Zeit.

 

Man kann über alles reden

Jedenfalls: Wenn sich spätere Generationen mal ein Anfangsjahrhundertbild unserer Gesellschaft zusammenpuzzeln wollten, müssten sie „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf lesen, vor zehn Jahren von Rowohlt verkauft als Jugendroman, der dann aber wie warme Semmeln weltweit an alle Altersstufen wegging, über drei Millionen Mal, in 36 Ländern. Warum? Unter anderem wegen Sätzen wie diesem – Frau Klingenberg aus Ostberlin (alkoholkrank) sagt sie zu ihrem Sohn Maik (15 Jahre, Erzähler und unglücklich verliebt) auf dem Weg raus vom Tennisclub: „Du kannst nicht viel von deiner Mutter lernen. Aber das kannst du von deiner Mutter lernen. Erstens, man kann über alles reden. Und zweitens, was die Leute denken, ist scheißegal.“ Besagter Maik haut dann ab mit dem russischen Spätaussiedler Tschick in einem Lada, eher kreuz als quer durch Deutschland. Es ist egal, ob man den Roman als poetisiertes Roadmovie liest oder als raffinierten Brentano-Tieck-Wiedergänger versteht: Herrndorf traf in Klang und Konstruktion mehr als ein Gefühl – er schrieb ein wildes, weises, witziges, wunderbar formuliertes Überlebensbuch, in dem über so ziemlich alles gesprochen wird. Heute gehört „Tschick“ zum Kanon im Deutschabitur (mit mehr Berechtigung als „Bahnwärter Thiel“).

Selbstzweifel von kafkaesken Ausmaßen

Als das Buch im Spätsommer 2010 einschlug wie „Buddenbrooks“ und „Die neuen Leiden des jungen W.“ zusammen, hatte Wolfgang Herrndorf, ein vormals und weiterhin bescheiden in Berlin lebendes künstlerisches Multitalent, noch drei Jahre: Hirntumor, bösartig. Statt zu flüchten, hielt er stand, rettete sich ins literarische Spiel („Sand“) oder dokumentierte Kunst und Krankheit („Arbeit und Struktur“). Herrndorfs Selbstzweifel konnten kafkaeske Ausmaße annehmen, aber bis zum Schluss, als er sich 2013 mit 48 Jahren umbrachte, rang er sich richtig große Werke ab. Zum Beispiel: „Tschick“.