Vor 27 Jahren wurde sie von einem Marbacher Ehepaar adoptiert. Nun hat Sandra Sharda Kecker in Bangalore ihre Wurzeln gefunden. Ein deutsch-indisches Familiendrama.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Leinfelden/Bangalore – Am Tag, als Sharda im Slum von Bangalore zur Welt kommt, schaut niemand auf den Kalender. Nach der Entbindung muss sich ihre Mutter wieder um den Ehemann kümmern – seit er beide Beine verloren hat, trägt sie ihn durchs Leben. Mit zwei Jahren folgt Sharda den Bettlern ins Zentrum der südindischen Millionenstadt. Poomani, die Anführerin der Gruppe, ist eine kleine Frau mit einem großen Herzen. Sie sorgt dafür, dass Sharda nicht verhungert. Im Sommer, wenn der Monsun die Straßen überflutet, schlafen sie unter dem Vordach eines Ladens.

 

1984 sterben Shardas Eltern, der Vater an Polio, die Mutter an Malaria. Das Mädchen, kaum vier Jahre alt, besitzt keine Verwandtschaft mehr, die für es sorgen könnte. Kumar und Kanna, die älteren Brüder, leben selbst auf der Straße. Gowri, ihre große Schwester, hat Mühe, ihre eigenen beiden Töchter zu ernähren. Sharda wird ins Waisenhaus Shishu Mandir gebracht. Dort gibt man ihr täglich zu essen – Reis, Gemüse, etwas Fleisch. Nachts teilt sie sich mit zwei anderen Kindern einen Laufstall.

„Wäre ich damals nicht ins Shishu Mandir gekommen, würde ich mit Sicherheit nicht mehr leben“, sagt Sandra Sharda Kecker. Die 32-Jährige sitzt an ihrem Esstisch in Leinfelden, ihr silberner Schmuck und ihre weißen Zähne funkeln um die Wette. Sandra Sharda Kecker schwätzt astreines Schwäbisch, was in Kombination mit ihrer dunklen Haut verblüfft. Vor ihr stapeln sich amtliche Dokumente aus Indien und Deutschland sowie ein Tagebuch, Reisenotizen und Fotos. Die Lebensgeschichte, die Sandra Sharda Kecker erzählt, wirkt wie aus einem Bollywoodfilm. Große Gefühle, tragische Todesfälle, überraschende Wendungen. Kann das alles wahr sein? Es kann.

Ein Polaroid von dem neuen Zuhause

Im Frühjahr 1985 bekommt Sharda von der Heimleiterin ein Polaroid überreicht: „Das ist bald dein Zimmer.“ Sharda erkennt saubere Bettwäsche und frisch gestrichene Wände. Einige Wochen später erhält sie einen zweiten Vornamen (Sandra), ein offizielles Geburtsdatum (15. März 1980) und neue Eltern. Lore und Siegfried Roth kennen Sharda nur von einem Foto, das sie mit kurz geschorenen Haaren und scheuem Blick zeigt. Genealogisch betrachtet, gibt es keinerlei Verbindung zwischen dem schwäbischen Ehepaar und dem südindischen Kleinkind. Dennoch spüren die drei bei ihrer ersten Begegnung am Bangalore International Airport eine tiefe Verbundenheit, so als wären sie schon immer eine Familie gewesen. All die Mühen, die Lore und Siegfried Roth in den vergangenen zwei Jahren auf sich nahmen, all die bürokratischen Hürden, die sie überwinden mussten, sind augenblicklich vergessen.

Prominente wie Madonna, Angelina Jolie und Brad Pitt haben dafür gesorgt, dass Auslandsadoptionen zu einem Lieblingsthema der Regenbogenpresse geworden sind. Kinderschutzorganisationen warnen jedoch vor den Risiken. Niemand wisse, welche seelischen Erschütterungen ein Kind aus einem Entwicklungsland erfahren habe, es bringe eine weitgehend unbekannte Vergangenheit mit. Oft kommen die Kinder mit den ungewohnten Umweltbedingungen nicht zurecht, und spätestens in der Pubertät fragen sie sich, wo sie eigentlich hingehören. Sobald ernste Probleme auftauchen, greifen manche Adoptiveltern auf ein archaisches Erklärungsmuster zurück: Das Kind sei eben nicht ihr eigen Fleisch und Blut. Im Internet finden sich Berichte über traumatisierte Zöglinge aus Afrika, Asien oder Südamerika, die zu einer schweren Belastung für die Pflegefamilie, die Schule und die Nachbarschaft wurden.

Sharda ist der Beweis, dass es anders laufen kann. Nach sechs Wochen in Marbach am Neckar spricht sie die ersten Wörter Schwäbisch. Mit sieben wird sie eingeschult, mit elf wechselt sie aufs Gymnasium. Sharda, die Tochter des Feuer-wehrkommandanten Siegfried Roth, ist ein fröhliches, anpassungsfähiges Kind. Sie spielt Gitarre und Handball, engagiert sich in der evangelischen Kirchengemeinde und singt bei Weihnachtskonzerten. Als ein Mitschüler Sharda „Bambusnegerlein“ nennt, steht Lore Roth noch am selben Tag bei dessen Eltern vor der Haustüre und macht ihnen klar, dass so etwas nie wieder vorkommen dürfe. Sharda ist glücklich in ihrem heimeligen Nest, die Adoption empfindet sie als unermessliches Geschenk. Die Frage nach ihrer Herkunft stellt sie sich erst, als sie flügge wird.

Familiengeschichte im Leitz-Ordner

Zum 18. Geburtstag überreicht ihr die Mutter einen Leitz-Ordner. Darin hat Lore Roth alles sorgfältig gesammelt, was über Shardas leibliche Familie bekannt ist. Das meiste weiß sie schon, doch zum Schutz ihrer kindlichen Psyche wurde ihr eine düstere Wahrheit bis dahin verschwiegen: Ihre zwei Nichten, die Töchter ihrer großen Schwester Gowri, sind früh gestorben; anschließend wurde Gowri von ihrem Ehemann verstoßen. Sie hat sich selbst verbrannt in dem hinduistischen Glauben, dass ihre Seele dadurch in den Himmel kommt. Sharda weiß nun, dass von ihrer indischen Verwandtschaft nur noch die beiden Brüder existieren.

Das Millennium rückt näher, und Sharda steuert auf einen Wendepunkt in ihrem Leben zu. 1999 bekommt sie erstmals den Verlust eines geliebten Menschen unmittelbar zu spüren: Ihr Vater Siegfried Roth stirbt. Die unbeschwerte Jugend ist vorbei.

Sharda verlässt Marbach, um 130 Kilometer neckarabwärts eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester zu machen. Im Heidelberger Wohnheim lernt sie Lovely kennen. Die selbstbewusste Tochter indischer Einwanderer bewegt sich kulturell zwischen zwei Kontinenten. Lovely genießt ihre Freiheit in Europa und pflegt die südasiatischen Traditionen. Sharda lernt von ihr, wie man indisch kocht, indisch tanzt, sich indisch kleidet. Sie spürt ihre zweite Identität, und plötzlich steht für sie fest: Sie muss ihren Wurzeln näherkommen, sie muss ihre beiden Brüder finden!

Abbruch der Forschungsreise

Lore Roth hat gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und schenkt ihrer Tochter ein Flugticket nach Delhi. Sharda will das Land ihrer Ahnen kennenlernen und gegen Ende ihrer Rundreise Kumar und Kanna in Bangalore suchen. Doch der Trip im Oktober 2002 endet im indischen Chaos. Durch den Monsun sind viele Strecken unpassierbar. Hotels, die gebucht und bezahlt waren, sind restlos belegt. Sharda gehen die Kraft und das Geld aus. Sie strandet in Goa und beschließt, ihre Forschungsreise in die eigene Vergangenheit 2003 fortzusetzen.

Aus dem Plan wird nichts, denn der Alltag lässt ihr keinen Raum zur Identitätssuche. Sharda beendet die Ausbildung und bekommt eine Stelle als Kinderkrankenschwester. 2004 heiratet sie den Betriebswirt Marco Kecker, im selben Jahr wird die gemeinsame Tochter Vinja geboren. Die Familie zieht nach Leinfelden, der Sohn Leon kommt zur Welt. Es gibt immer etwas zu tun, die Zeit verfliegt. Sandra Sharda Kecker ist Ehefrau, Mutter und Arzthelferin. Sie hat ihr Glück gefunden, ohne ihrem zweiten Ich nähergekommen zu sein. Bis sie von ihrem Mann zum 32. Geburtstag ein besonderes Präsent erhält: „In den Sommerferien lassen wir die Kinder bei der Oma und reisen nach Indien.“

Am 29. Juli 2012 um 1.04 Uhr Ortszeit landet der Lufthansa-Flug 754 in Bangalore. Die Fahrt mit der Autorikscha ins Hotel The Orchard Suites dauert fast drei Stunden. Sandra und Marco Kecker sind müde, dennoch machen sie sich gleich am nächsten Tag auf den Weg ins Shishu Mandir.

Kaum hat sie das Kinderheim betreten, fühlt sich Frau Kecker aus Leinfelden wie Sharda, das Waisenmädchen aus dem Slum, das hier vor 28 Jahren abgegeben wurde. Sie erkennt den langen Gang wieder und sieht die Blechteller auf dem Boden stehen, von denen sie einst selbst Reis gegessen hat. Sharda ist mit der Heimleiterin verabredet, die ihr vor Jahren Fotos von den Brüdern geschickt hat und offenbar weiß, wo sie sich aufhalten. Doch es heißt, die Heimleiterin ist nicht da. „Richten Sie ihr bitte aus, dass sie mich anrufen soll“, sagt Sharda.

Der neue Bruder

Drei Tage vergehen, nichts passiert. Dann, am 2. August, die niederschmetternde Mitteilung: Kumar und Kanna sind tot, im Abstand von wenigen Stunden in einer Klinik gestorben. Die Heimleiterin vermutet, dass der ältere Bruder schwer krank war und der jüngere nicht ohne ihn weiterleben wollte. Es gibt keine Sterbeurkunden und kein Grab – das ist nicht ungewöhnlich in Indien, wo Leichen meist verbrannt und die Überreste in den Fluss gestreut werden. Dennoch, sagt die Heimleiterin, gebe es einen Hoffnungsschimmer: Selvi, eine Slumbewohnerin, kenne ein Geheimnis über Shardas Familie. Sie werde sich bald melden.

Der nächste Schicksalstag. Selvi ruft an, sie spricht gebrochenes Englisch. Sharda glaubt zu verstehen, dass doch noch ein Bruder von ihr lebe. Wie ist das möglich? Die beiden Frauen verabreden sich für den kommenden Abend im Shishu Mandir. Shardas Herz rast, sie fürchtet, dass sie erneut enttäuscht werden könnte.

Selvi bringt ihre Schwester Lilly als Übersetzerin in das Waisenhaus mit, sie berichtet: Kurz bevor Sharda geboren wurde, hat ihr ältester Bruder Ravi die Familie verlassen. Ravi wollte sein Leben nicht als Bettler in Bangalore fristen, deshalb ist er als Zehnjähriger nach Mumbai gegangen. Die Eltern erwähnten den verlorenen Sohn nie mehr. Nach ihrem Tod kehrte Ravi zurück. Mit seiner Frau und seinen Töchtern wohnt er unweit vom Shishu Mandir. „Woher wisst ihr das?“, fragt Sharda. – „Unsere Mutter ist Poomani, die Frau, die dich auf der Straße großgezogen hat.“ Sharda steht auf, Selvi und Lilly führen sie in ihre Vergangenheit.

Kurze Zeit später, im Slum. In einer Wellblechhütte sitzt eine kleine, dünne Frau: Poomani. Sie ruft „Sharda, nach 30 Jahren kommst du zu mir zurück!“ und steckt der Besucherin als Willkommensgruß Blumen ins Haar. Nachbarn eilen herbei, beschenken die Heimkehrerin mit Keksen, selbst genähten Puppen und einem Sari. Sharda ist stolz auf ihre Herkunft. Sie gehört zu diesen liebevollen Menschen.

Hand in Hand mit Ravi

Tags drauf, bei der Schwägerin. Anusha lebt mit ihren vier Töchtern in einem gemauerten Haus. Ihr Mann Ravi ist nicht da, er arbeitet als Maler in Mysore, vier Autostunden von Bangalore entfernt. „Sag meinem Bruder, dass ich hier bin“, bittet Sharda, „und dass ich ihn unbedingt sehen will.“ Anusha verspricht: „Ich richte es ihm aus.“

Wieder warten. Drei Tage vor dem Abflug ruft Anusha an: Ravi kann nicht nach Bangalore kommen. „Dann fahre ich eben zu ihm nach Mysore“, entgegnet Sharda. Am nächsten Morgen ist sie um fünf Uhr hellwach, wie ein Tiger im Käfig läuft sie im Hotelzimmer auf und ab. Um sieben fährt das Taxi vor. Es beginnt ein scheinbar nicht enden wollender Trip durch den Monsun. Sharda plagen Zweifel. Will ihr Bruder sie überhaupt sehen? Als Treffpunkt ist der Bahnhof vereinbart. Noch hundert Kilometer über Schlaglochpisten, die der Regen allmählich in reißende Bäche verwandelt. Kühe kreuzen den Weg.

Gegen halb zwölf ist das Ziel erreicht. Die Sonne bricht durch die Wolken. Sharda reißt die Tür auf, springt aus dem Taxi. Sie schaut sich um. Menschen über Menschen. Alle mit dunkler Haut, dunklen Haaren, dunklen Augen. Wie soll sie ihn erkennen? Doch als Ravi vor ihr steht, weiß sie sofort, dass er ihr Bruder ist. Keine Worte. Minutenlange Umarmung. Glückstränen. Ein emotionales Feuerwerk. Schließlich nimmt er ihr Gesicht in seine Hände und spricht: „My little Sharda, I love you, sister.“

In den folgenden 15 Stunden lassen sie sich nicht mehr los. Hand in Hand spazieren sie durch die malerischen Gassen von Mysore. Im Sri-Chamundeshwari-Tempel, eine der bedeutendsten hinduistischen Pilgerstätten, segnet sie ein Mönch. In der   St. Philomena’s Church, einer der größten christlichen Kirchen des Landes, beten sie. Beim Abendessen füttert Ravi seine Schwester – ein Brauch, mit der Inder ihre tiefe Verbundenheit ausdrücken. Der große Bruder besteht darauf, alle Rechnungen zu übernehmen. Erst um drei Uhr morgens fährt Sharda zurück nach Bangalore.

Zwei Monate später. „Das hört sich vermutlich alles an wie aus einem Kitschroman“, sagt Sandra Sharda Kecker. „Aber ich weiß seit jenem Tag, dass meine Seele mit der Seele meines Bruders verknüpft ist. Ich spüre noch heute seine Hand in meiner Hand.“ Seit ihrer Begegnung in Mysore telefonieren die Geschwister täglich miteinander. Sharda lernt nun Tamil, ihre Muttersprache. Für das kommende Jahr hat sie ihren Bruder mit seiner Frau nach Leinfelden eingeladen. Dann will Sandra Sharda Kecker mit ihren beiden Familien aus Schwaben und Südindien ein Freudenfest feiern: „Ich habe so viel Gutes in meinem Leben erfahren. Jetzt habe ich die Gelegenheit, etwas zurückzugeben.“