Unser Autor über eine seiner größten Liebschaften, der man in Stuttgart schon seit über 700 Jahren nachgeht: der Besuch des Wochenmarkts. Schwätzchen mit dem Marktvolk inklusive.

Stuttgart - Ich frage mich, weshalb noch niemand einen Song über Wochenmärkte geschrieben hat. Jeder erdenkliche Ort, jeder Zustand, jede Freizeitbeschäftigung (schlüpfrig wie unschlüpfrig) wurde in den letzten 70 Jahren Popgeschichte verhandelt und in ein dreiminütiges Narrativ gepackt. Der Besuch des Wochenmarktes noch nicht.

 

Sucht man bei Spotify nach „Wochenmarkt“, bekommt man recht spärliche Ergebnisse. Ein Podcast namens „Teilzeit-Spießer“ (that‘s me!) und eine Folge Peppa Pig. Mir ist das unbegreiflich. Der Besuch des Wochenmarkts ist für mich ein euphorisierendes Erlebnis, ein unerschütterlicher Fels in der Zeitgeistbrandung. Der Markt hat die Zeiten überdauert, der Markt war immer da und der Markt wird immer da sein. Ich finde das gerade in Zeiten wie diesen ungemein tröstlich. Über meine Stammkneipe kann man das im Corona-Winter 2021 noch nicht mit unbedingter Sicherheit sagen.

Der größte Anachronismus unserer Zeit

Was mir am Wochenmarkt gefällt, ist die Unaufgeregtheit und der hoffnungslose Anachronismus dieser Institution. Wie schon in der römischen Antike, wie schon im deutschen Mittelalter oder im florierenden Persien des 16. Jahrhunderts bieten Marktbeschicker ihre Ware feil. Und wo bitteschön gibt es in unseren Leben einen Fixstern, an dem sich selbst hier in Deutschland seit über 1000 Jahren nur sehr wenig geändert hat? Sicher, zu Zeiten der Karolinger gab es wahrscheinlich keinen Stand, der mir einen frischen Espresso gebrüht hat, aber über diese Nichtigkeiten sehe ich großzügig hinweg.

Ein Markt ist kein Supermarkt, in dem anonyme Produkte in den Regalen liegen, in diffuser Ferne hergestellt von gesichtslosen Produzenten. Ein Markt ist einer der letzten Orte, an dem ich als Verbraucher noch in direkten Kontakt mit den Erzeugern meiner Lebensmittel treten kann. Außerdem kann ich, wenn mal nicht so viel los ist, ein Schwätzchen mit dem Marktvolk halten. Und ich liebe es, ein Schwätzchen mit dem Marktvolk zu halten.

Das neue Rädle Wurst

Wenn ich nicht so viel Zeit habe, gehe ich gern auf den kleinen, aber feinen Markt am Bismarckplatz im Stuttgarter Westen. Und das am besten sehr früh: Dienstag, Donnerstag und Samstag ist hier Markttag, beim Gemüsestand aus dem Remstal führt die Schlange zu Stoßzeiten schon mal über den ganzen Platz. Aber das Gemüse ist frisch und gut, die Preise anständig und außerdem bekomme ich öfters mal eine Nektarine oder eine Birne geschenkt. Der Markt füllt für mich also die klaffende Lücke in Form eines Rädles Wurst, das ich beim Metzger irgendwann nicht mehr bekommen habe.

Mit mehr Zeit zieht es mich auf den großen Markt in der Innenstadt. Die Auswahl ist lächerlich gut, das Schlendern macht Spaß und wenn es doch mal was nicht geben sollte, besorge ich es einfach in der Markthalle. Besonders schön wird der samstägliche Marktbesuch durch einen Besuch in der wunderbaren Weinbar der Weinhandlung Kreis direkt am Schillerplatz. Sie ist seit fast einem Jahr wegen Corona geschlossen und hat ein weitaus größeres Loch in mein Leben gerissen, als die Absenz dieses Rädles Wurst. Ich hoffe auf bessere Zeiten.

Jeder kann auf den Markt

Doch der Markt, das weiß ich jetzt, der wird immer für mich da sein. Seit über 2.000 Jahren wechseln hier Waren und Geld die Besitzer, seit über 2.000 Jahren zeigt der Markt, welches Füllhorn an Köstlichkeiten die Region bereithält. Ganz so lang ist man in Stuttgart nicht dabei. Dennoch gibt es auch hier im Kessel seit über 700 Jahren einen regelmäßigen Wochenmarkt. Heute sind es 30 regelmäßige Märkte mit 450 Anbietern, darunter 280 Erzeugern. Die Ausrede, dass der Weg zum nächsten Markt zu weit ist, zählt ab sofort also nicht mehr. Ich erwarte vom jungen Jahr 2021 also mindestens einen Song über den Wochenmarkt von meinen Stuttgarter Musiker*innen. Wer zuerst? Als Belohnung winkt ein gemeinsamer Wochenmarktbesuch mit mir. Schwätzchen inklusive.