Eine Mädchenfreundschaft im Kalten Krieg Die Stasi und der Luftballon

Als wäre es für diese Geschichte gesprayt: ein Werk des Graffiti-Künstlers Banksy Foto: Mauritius

Vor 40 Jahren ließ ein Mädchen vom Odenwald einen Luftballon steigen. Er flog über denTodesstreifen und landete bei einem Mädchen in Sachsen. So begann eine wunderbare Freundschaft – für die sich auch die Stasi interessierte.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Dossenheim/Lommatzsch - Am 20. März 1977 ist Frühlingsumzug in Dossenheim – in Dossene, wie die Einheimischen sagen. Das Highlight im Festkalender der Kleinstadt am Fuß des Odenwalds. Die sechsjährige Steffi entdeckt einen Clown mit einem Strauß Luftballons. „Papa, ich will so einen haben.“ – „Aber der fliegt in den Himmel, den kannst du nicht behalten.“ – „Ja, ich will ihn fliegen lassen.“ An den Luftballon darf sie eine Karte hängen: „Wenn du Glück hast, findet ihn jemand, und du bekommst in ein paar Tagen Post.“ Weil sie noch nicht schreiben kann, diktiert sie: „Ich bin 6 Jahre alt, habe zur Zeit das Bein gebrochen. Ich würde mich freuen, wenn ich eine Antwort bekomme. Stefanie.“ Absender: Heimatverein, 6901 Dossenheim. Dann lässt sie den Luftballon feierlich frei. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

 

„Was glaubst du, was ich hier habe?“ Zehn Tage später hält Steffis Mutter einen Brief in der Hand. Sie liest vor: „Liebe Stefanie, mein Opa fand den Luftballon heute auf einem Feld bei unserem Dorf. Ich wohne in Dennschütz bei Lommatzsch, Kreis Meißen. Ich bin 6 Jahre alt. Für dein gebrochenes Bein wünsche ich dir gute Besserung. Über einen Brief von dir würde ich mich sehr freuen. Viele Grüße von Anke.“

40 Jahre sind seitdem vergangen. Die Mädchen von einst sind sich immer noch verbunden. Sie glauben nicht, dass ein Zufall dem Luftballon damals nach 380 Kilometern die Puste ausgehen und ihn auf jenem sächsischen Kartoffelacker landen ließ. „Der Ballon wusste genau, wo er hinfliegen sollte“, sagt Stefanie Wally. „Wir sind wie Schwestern“, sagt Anke Behrendt.

Monopoly und Monchichi

„Können wir Anke besuchen?“ – „Das wird schwer“, sagt Steffis Mutter. Dann versucht sie zu erklären, was die DDR ist. Quasi auch Deutschland. Es gab mal ein Land, das einen schlimmen Krieg begonnen hat und zur Strafe in zwei Hälften geteilt wurde. Die eine Seite baute eine Mauer, damit die Leute nicht abhauen. Und von draußen kommt man nicht so einfach rein wie nach Österreich, wo sie immer Urlaub machen.

In ihren Briefen schreibt Steffi, wie ihr Zimmer aussieht, dass man in ihrer Straße prima auf Bäume klettern kann. Dass sie mit den Nachbarskindern Abba spielt und sie immer Anni-Frid sein muss wegen ihrer dunklen Haare. Dass sie sich ein Monchichi, einen Barbie-Roller, ein Monopolyspiel und Schlümpfe wünscht.

Anke erzählt, dass sie auf einem Art Bauernhof lebt mit vielen Tieren. Sie wünscht sich ein Aquarium zu Weihnachten, ihr Bruder eine Häsin. Es gibt einen Schulgarten bei ihr. Aber nicht zum Spaß: Die Pflanzen sind für die Schulspeisung.

Die Briefe werden dauerhafte Begleiter durch die Kindheit und Jugend der Mädchen. Sie haben jeden einzelnen gut aufbewahrt. Aus heutiger Sicht ein Almanach der 80er. Sie tragen ein Lebensgefühl in sich. Zwei Lebensgefühle. Und in ihnen spiegelt sich deutsche Geschichte. Steffi fährt in den Sommerferien auf der Rückbank eines Ford Taunus in die Berge. Anke im Wartburg an den Plattensee oder zum Schüleraustausch in die CSSR, wo sich ihre Freundin einen Mickey-Mouse-Pulli kauft. „Das gab danach mächtig Ärger.“

Steffi entdeckt in der Dossenheimer Sparkasse ein Poster mit Gesichtern. Ihr Vater erklärt, das sind gefährliche Terroristen, viele von ihnen sind inzwischen in die DDR geflüchtet. Das kapiert Steffi nicht ganz. Sie sorgt sich um ihre Freundin.

Was ist eine LPG?

Als Teenager können sie sich in ihren Briefen alles anvertrauen. Anke gefällt ein Junge aus der zehnten Klasse, der aber keine Notiz von ihr nimmt. Viermal im Jahr hat sie Wehrunterricht. „Ziemlich langweilig, und die Disziplin ist saumäßig. In den nächsten Ferien gehe ich in einer LPG arbeiten.“ Steffi hat Liebeskummer in der Frankreichfreizeit. „Aber da war dann ein anderer Typ, dem ging es wie mir. Wir haben zum ersten Mal richtig geknutscht. Wie bei ‚La Boum‘. Lief der Film bei euch auch in den Kinos? PS: Was ist eine LPG?“

In Steffis Zimmer hängt ein Duran-Duran-Starschnitt von „Bravo“, sie sammelt Gläser von Leonardo, lässt sich eine Dauerwelle machen, hört Songs auf dem Walkman. „Duran Duran kenne ich. Mein Bruder hat mehrere Lieder auf Kassette“, antwortet Anke. „PS: Was ist ein Walkman?“

Sie sind gleich alt, sprechen die gleiche Sprache, ihre Länder haben die gleiche Geschichte. Aber, das wird ihnen mit der Zeit auch bewusst: Sie kommen aus zwei Welten. Steffi, das – wie sie selber sagt – behütete Prinzesschen, das in einem BRD-Mittelstandshaushalt wie die Made im Speck lebt. Der Vater, Buchhalter und treuer CDU-Wähler, ist als Kind der Nachkriegsgeneration mit vielen Entbehrungen aufgewachsen. Durch seinen Fleiß konnte er sich Wohlstand und Sicherheit erarbeiten.

Seine Tochter ist eher links. Tauscht ihren Glitzerschal gegen ein Arafattuch. Das allgemeine Duckmäusertum kotzt sie an, diese blinde Amerikagläubigkeit, der Stillstand überhaupt. Zu Weihnachten 1985 wünscht sie sich Allround von Adidas. Lieber noch einen eigenen Fernseher, „aber den krieg ich bestimmt nicht“.

Der erste Besuch

Anke kriegt zu Weihnachten wieder ein Römer-Trinkglas. Von Riesengeschenken kann sie nur träumen. In der Schule lernt sie Englisch. „Leider komm ich nicht so schnell nach Großbritannien. Aber lassen wir das, sonst reg ich mich hier über drei Seiten über diesen Staat auf.“

Sie würde gerne Ökonomie studieren, Fachrichtung Hotel- und Gaststätten. Ihre Chancen sind gleich null, sagt man ihr. Angeblich zu viele Bewerber. Dann wenigstens eine Ausbildung als Empfangssekretärin: Sie fährt mit ihren Eltern zu einem Hotel in Dresden. „Ich könnte ohne Wartezeit eine Lehrstelle bekommen“, schreibt sie. „Aber nur, wenn ich in die Partei eintrete. Das hörten wir deutlich heraus.“

Steffis Lieblingsdisco ist der Schwimmbad-Club in Heidelberg. Ihr Lieblingsgetränk Batida-Kirsch. Sie trägt ein cooles Oversize-Jackett von ihrem Vater und einen Hut wie Bono: „Pride in the name of love.“ Anke arbeitet im Büro der Handelsorganisation Meißen und träumt von einem Plattenbau mit eigener Nasszelle. Sie ist schon ein Jahr mit ihrem Freund zusammen. „Hätte nie gedacht, dass ich es mal so lange mit ein und demselben Boy aushalte.“

Im Oktober 1988 – die Besuchsregelungen sind mittlerweile lockerer – klappt es mit dem ersten Besuch. Steffi auf dem Meißener Bahnhof. Sie fällt Anke um den Hals. Kurz beschleicht sie das Gefühl, sie damit zu überfordern. Doch nach sprachlosen Sekunden beginnt das Geplapper. Im pinkfarbenen Overall fährt Steffi durch eine graue Stadt. Sogar der Himmel ist grau.

Ankes Großvater, dem sie ihre Freundschaft verdanken, hat Tränen in den Augen, als Steffi aus dem Auto steigt und ihm entgegenrennt. Auch sie kann die Tränen nicht zurückhalten. Die Familie nimmt sie auf wie eine verlorene Tochter. Es gibt Kuchen und frisch gebrühten Westkaffee.

Ausflug nach Meißen. „Warum glotzen mich denn alle so an?“ – „Na, weil jeder sieht, dass du aus dem Westen kommst.“ – „Wieso? Ich hab doch Sweatshirt und Jeans an wie alle.“ – „Aber du hast die richtige Jeans, das richtige Sweatshirt und Adidas-Turnschuhe. Das sehen wir sofort.“

Sie trinken Club Cola und essen den DDR-Hamburger Grilletta, entwickelt vom Rationalisierungszentrum Gaststätten in Berlin. Steffi lernt Krusta kennen, das Ost-Gegenstück zur West-Pizza. Besonders beliebt: die Spreewald-Variante mit Sauerkraut, Hackfleisch und saurer Sahne.

Kein Platz bei Robotron

Anke erzählt, dass sie ja weiter versucht hat, einen Studienplatz zu bekommen. Daraufhin nahm die zuständige Parteisekretärin sie beiseite: ob sie nicht in die SED eintreten wolle. Ihre Unterlagen würden dann auf einen anderen Stapel gelegt.

Datenfacharbeiterin hätte sie auch noch spannend gefunden. Doch die von Robotron in Dresden lassen sie den Beruf auch nur lernen, wenn sie den Kontakt in den Westen abbricht. Jetzt macht sie eben die Ausbildung im Büro. „Ich denke, ich stehe unter strenger Beobachtung. Deswegen müssen wir auch vorsichtiger sein mit dem, was wir uns in Zukunft schreiben.“

Steffi hat Politik-Leistungskurs. Sie sympathisiert mit dem Sozialismus, liest Marx und Engels: kein Oben, kein Unten. In der BRD muss man die Ellbogen ausfahren, um nach oben zu kommen. Und die Freiheit des Einzelnen hört oft nicht bei der Freiheit des anderen auf. Die Idee eines Staates, der seinen Bürgern gehört, findet sie gut. Aber diesen Sozialismus nicht.

1989, das Revolutionsjahr. „Steffi, es ist nicht nur Leipzig. Da passiert gerade was überall“, schreibt Anke. „Letzte Woche war ich in Erfurt. Sobald die Sonne unterging, sind wie von Geisterhand die Menschen zusammengekommen. In Dresden waren Tausende auf den Straßen. Wir wurden von Soldaten flankiert. Die standen da mit ihren Gewehren. Weißt du, wie unheimlich das ist?“ Ihr geht es um Selbstbestimmung ohne Kontrolle. Dass sie sich mit ihrem Geld etwas kaufen kann. Um Redefreiheit natürlich. „Einerseits will ich weg. Aber jetzt, wo was passiert, kann ich doch nicht gehen. Ach, ich weiß gar nichts mehr.“

Als am 9. November die Mauer fällt, fährt Steffi noch in der Nacht mit ihrem Freund nach Berlin und meißelt sich ein hellblaues Stück ab. Zwei Tage später schreibt sie Anke. Im Januar kommt die Antwort. „Steffi, es hat sich viel verändert, aber irgendwie hat man das Gefühl, dass es nicht richtig weitergeht. Vor allem ärgert mich, dass einige nicht im Gefängnis wohnen, wo sie ja eigentlich hingehören. Bei uns sind jetzt viele Leute erwacht und interessieren sich für Politik.“

Ostern 1990: „Wir wollen in der DDR bleiben. Wir haben die Allianz für Deutschland gewählt und freuen uns sehr, dass sie gewonnen hat. Es werden jetzt in jedem Betrieb die Verwaltung und die überflüssigen Arbeitskräfte abgebaut. Ich muss wohl auch bald mit der Entlassung rechnen.“

Der Luftballon in der Stasi-Akte

Eigentlich könnten sie sich nun, ohne Mauer, häufiger sehen. Aber der Kontakt wird loser. Steffi studiert in Heidelberg auf Lehramt, Anke BWL in Leipzig. Die Briefe werden kürzer. Für einige Jahre beschränkt sich der Kontakt auf Geburtstagskarten und Urlaubsgrüße. Dann eines Tages ein Anruf von Anke: Ihr Bruder hat seine Stasi-Akte gelesen. Darin ist auch von ihr und Steffi die Rede. „Da stehen so viele Dinge, die nur Leute wissen konnten, die uns sehr nahe stehen.“ Sogar der Luftballon kommt vor. Sie wussten von Anfang an Bescheid. „Ich glaube, ich will lieber gar nicht wissen, wer mein IM war. Ich habe Angst vor der menschlichen Enttäuschung.“

Steffi lebt heute in Karlsruhe mit ihrem Partner. Sie ist geschieden, hat keine Kinder. Sie arbeitet in der Lehrerfortbildung, ist Kommunikations- und Körpersprachetrainerin, spielt Theater: umtriebig wie eh und je. Anke lebt in Leipzig mit ihrem Mann und zwei Kindern, arbeitet bei der Deutschen Bahn. Mindestens einmal im Jahr besuchen sie sich für ein paar Tage.

„Wir sind uns sehr ähnlich und doch verschieden“, sagt Stefanie Wally. „Ich die Extrovertierte. Anke, die sich nicht so schnell öffnet. Auch politisch denken wir ganz anders, sie war ja für die rasche Wiedervereinigung.“ Vielleicht ist das Freundschaft: der liebevolle Blick auf das Andere.

„Wir haben so unterschiedliche Lebensläufe. Und doch gibt es da ein tiefes Verständnis füreinander“, sagt Anke Behrendt. Sie war immer neugierig auf das andere Deutschland. Warum durfte sie nicht dorthin reisen? Dachten sie, es ist da so toll, dass sie nicht mehr zu ihren Eltern zurückgekommen wäre? „Man wollte mich in der DDR nur ausbilden, mich nur studieren lassen, wenn ich den West-Kontakt abbreche und in die Partei eintrete. Das erschien mir so offenkundig ungerecht, dass ich nie in Versuchung kam nachzugeben.“

2016 beantragt Anke nach langem Grübeln Einsicht in ihre Stasi-Akte. Noch hat sie keinen Termin. Aber es ist schon abgemacht, dass sie alles für sich durchgeht und Steffi zunächst draußen wartet. Wenn Anke dann so weit ist, lesen sie gemeinsam.

Buch „Akte Luftballon“ (192 Seiten, 19,95 Euro) von Stefanie Wally ist erschienen im Elisabeth Sandmann Verlag, München.

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